Bei mehr als 90 Prozent der Patienten mit Tumorschmerzen lassen sich diese durch Medikamente lindern. Foto: dpa

Schmerzen – davor fürchten sich viele Krebspatienten. Doch den typischen Krebsschmerz gibt es nicht. Dazu sind die Auslöser zu verschieden. Ärzte des Klinikums Stuttgart und des Robert-Bosch-Krankenhauses erklären, wie Linderung erfolgen kann.

Stuttgart - Schmerzen – davor fürchten sich viele Krebspatienten. Doch den typischen Krebsschmerz gibt es nicht. Dazu sind die Auslöser zu verschieden. Ärzte des Klinikums Stuttgart und des Robert-Bosch-Krankenhauses erklären, wie Linderung erfolgen kann.

1. Gibt es den Tumorschmerz?

Kurz nach der Diagnose klagen drei von zehn Krebspatienten über Schmerzen. Mit fortschreitender Krankheit leiden bis zu acht von zehn Krebspatienten darunter. Doch „den einen Tumorschmerz“ gibt es nicht, sagt Stefan Junger, Leiter der Schmerzambulanz am Klinikum Stuttgart. Dazu sind die Ursachen viel zu unterschiedlich: „Schmerz entsteht beispielsweise, wenn der Tumor wächst, Gewebe verdrängt, auf Blutgefäße oder Nervenbahnen drückt“, sagt Junger. Es gibt aber auch den therapiebedingten Schmerz, der beispielsweise aufgrund der Chemo- oder Strahlentherapie entsteht – etwa weil die Nerven aufgrund der Belastung so angegriffen werden, dass eine Polyneuropathie entsteht. Sprich: Die Nerven spielen völlig verrückt. „Viele Patienten verspüren dann ein unangenehmes Kribbeln, Brennen oder ein gestörtes Temperaturempfinden“, sagt Junger. Und es gibt die sogenannten tumorassoziierten Schmerzen, die aufgrund einer Begleiterkrankung entstehen – etwa weil sich aufgrund des geschwächten Immunsystems der Krebspatienten eine Pilzinfektion oder eine Gürtelrose entwickelt. „Und natürlich bleiben auch Krebspatienten von ganz normalen Kopf-, Rücken- oder Muskelschmerzen nicht verschont“, sagt der Schmerzexperte Stefan Junger.

Um die Schmerztherapie exakt auf die Bedürfnisse des Patienten abzustimmen, braucht es daher eine genaue Abklärung, was für die Schmerzentstehung verantwortlich gemacht werden kann. „Oft spielen auch psychische Gründe dabei eine Rolle, weshalb auch diese bei der Wahl der Therapie berücksichtigt werden müssen“, so Junger. Auch die Deutsche Krebshilfe sagt: Es gibt keinen seelischen Schmerz ohne körperliche Reaktion und keinen körperlichen Schmerz ohne seelische Empfindung.

2. Lässt sich Schmerz klassifizieren?

Schmerz ist keine einfache Sinneswahrnehmung wie beispielsweise das Hören – bei dem etwa das laute Klingeln eines Handys auch exakt als solches registriert wird. Schmerz, so heißt es bei der Deutschen Krebshilfe, ist vielmehr eine komplexe Empfindung und entspricht eher einem Zustand wie beispielsweise Müdigkeit, die keineswegs nur durch Schlafmangel bestimmt wird. Das macht es vielen Betroffenen schwer, ihr Leiden in Worte zu fassen. Dennoch sollten Patienten den Schmerz möglichst genau beschreiben, damit Ärzte ihnen auch gezielt helfen können. Folgende Fragen können dabei helfen: Wo habe ich Schmerzen und seit wann? Wie stark sind die Schmerzen, und wie fühlen sie sich an? Werden die Schmerzen schlimmer, wenn eine bestimmte Körperhaltung eingenommen wird oder bei Bewegung? Treten die Schmerzen beim Essen oder Trinken auf oder beim Gang zur Toilette? Wichtig ist auch der Hinweis, ob man schon vor der Krebserkrankung an chronischen Schmerzen wie etwa Kopf- oder Rückenschmerzen gelitten hat und ob sich diese während der Therapie verändert haben.

3. Machen Medikamente abhängig?

Bei mehr als 90 Prozent der Patienten mit Tumorschmerzen lassen sich diese durch Medikamente lindern. „Unter ärztlicher Kontrolle kann eine derartige Schmerztherapie auch über Jahre erfolgen, ohne dass es zu starken Nebenwirkungen oder einer Abhängigkeit kommt. Das gilt selbst für die Behandlung mit Morphin und anderen Opioiden. Langjährige Erfahrungen belegen, dass eine den Schmerzen angepasste Behandlung nicht zur psychischen Abhängigkeit führt – und zwar ganz gleich, wie hoch die Dosis ist.

Dennoch ist eine Sucht bei Tumorpatienten nicht ausgeschlossen: „So gibt es bei den schnell wirkenden Medikamenten Präparate, die bei einem unsachgemäßen Gebrauch zu einer Sucht führen können“, sagt der Stuttgarter Schmerztherapeut Stefan Junger. Ein Beispiel sind die sogenannten transmukosalen Fentanyle, die entwickelt wurden, um plötzlich auftretende starke Schmerzen schnell lindern zu können – als Nasenspray oder Lutschpräparat. „Problematisch werden die Fentanyle, wenn diese zunehmend zur schnellen Dämpfung aller Missempfindungen und auch der Ängste vor dem Verlauf der Erkrankung eingesetzt werden“, sagt Junger.

4. Ist Cannabis eine gute Alternative?

Seit März 2017 dürfen Ärzte schwer kranken Patienten Cannabis auf Rezept verschreiben – ein Segen für Krebspatienten, heißt es oft, wirkt Cannabis bei manchen Krebspatienten doch schmerzlindernd. Doch Schmerzexperten sehen diese Entwicklung kritisch: „Es gibt nur dürftige wissenschaftliche Beweise für den Einsatz von Cannabinoiden in der Schmerzmedizin“, sagt Annette Steckkönig, Leiterin der Palliativstation und des Konsiliardienstes Palliativmedizin am Robert-Bosch-Krankenhaus. Bislang sind diese Wirkstoffe nur bei Patienten mit Multipler Sklerose zugelassen, die eine schmerzhafte Spastik entwickelt haben. Auch Krebspatienten können sie beispielsweise als ölige Lösung verordnet bekommen, wenn ihnen von der Chemotherapie regelmäßig schlecht wird. „Da es obendrein appetitanregend wirkt, verschreiben es Kollegen auch Tumorpatienten, die aufgrund der Therapie stark an Gewicht verlieren“, sagt Stefan Junger vom Klinikum Stuttgart.

Sowohl im Robert-Bosch-Krankenhaus als auch am Klinikum Stuttgart wird Cannabis bei Schmerzpatienten nur verschrieben, wenn die klassischen Schmerzmittel nicht wirken oder die Patienten die Standardmedikamente nicht vertragen. „Das ist aber eher selten der Fall“, sagt die Onkologin und Schmerzexpertin Annette Steckkönig. Und auch ihr Kollege Junger warnt vor möglichen Nebenwirkungen. „Bekannt sind Schwindelattacken, Mundtrockenheit und ein wackliges Gefühl in den Beinen. Es gibt aber auch Berichte, bei denen nach regelmäßigem Gebrauch auch psychische Störungen auftreten können.“ Zudem sollten Konsumenten wissen, dass beim Autofahren der Versicherungsschutz im Ernstfall nicht unbedingt greift. „Es gibt dazu bislang keine geregelte rechtliche Lage“, so Junger.

5. Helfen Akupunktur und Co. bei Schmerzen?

Es braucht nicht immer nur eine Tablette, um Schmerzen in den Griff zu bekommen. Neben den medikamentösen Möglichkeiten gibt es auch weitere Therapieformen – wie etwa die Akupunktur. Nach Auskunft der Deutschen Krebshilfe haben viele Studien mittlerweile die Wirksamkeit dieser Behandlungsmethode aus der traditionellen chinesischen Medizin bei Schmerzen untersucht und gezeigt, dass sich chronische Schmerzen auf diese Weise häufig mindern lassen – wenn auch nur kurzfristig. „Die Nadeln reizen die Nerven und aktivieren das körpereigene schmerzhemmende System“, heißt es da. Auch die physikalische Therapie kann eine medikamentöse Behandlung ergänzen. Hierzu gehören unter anderem Massagen, Muskeltraining, Lymphdrainage, manuelle Therapie, Bäder und lokale Kälte- und Wärmeanwendungen wie beispielsweise Wickel.

Marcela Winkler, die leitende Fachärztin für Naturheilkunde und Integrative Medizin am Robert-Bosch-Krankenhaus, empfiehlt zudem Bewegung wie Qigong oder auch Yoga. „Bestimmte Bewegungsformen können wesentlich zur Schmerzlinderung beitragen, die Mobilität stabilisieren und verbessern.“ Zudem wirkt sich dies positiv auf den seelischen Zustand des Betroffenen aus. Für Stefan Junger, Leiter der Schmerzambulanz am Klinikum Stuttgart, ist dies ein nicht zu vernachlässigender Effekt: „Die Psyche hat einen großen Anteil daran, ob und wie stark ein Mensch Schmerzen empfindet“, sagt der Schmerzmediziner. Weshalb die Patienten auch lernen, wie sie mithilfe von Entspannungsübungen, Techniken der Aufmerksamkeitslenkung und einer Veränderung des eigenen Verhaltens insgesamt zu einem besseren Lebensgefühl finden.

6. Ist Palliativmedizin nur kurz vor dem Tod wichtig?

Wenn die Onkologin und Palliativmedizinerin Annette Steckkönig vom Robert-Bosch-Krankenhaus zu Krebspatienten hinzugezogen wird, fragen sie erschrocken: „Ist es jetzt schon so weit?“ Es ist ein hartnäckiges Vorurteil über ihre Arbeit, sagt Steckkönig: Viele Menschen würden den Begriff „Palliativmedizin“ mit dem baldigen Tod in Verbindung bringen. Dabei umfasst die Palliativversorgung längst mehr als Krebsmedizin und Begleitung am Lebensende: „Sie trägt auch zur Lebensverlängerung und Steigerung der Lebensqualität bei.“ So wurde 2010 gezeigt, dass die frühzeitige Einbindung von palliativen Fachkräften nicht nur die Lebensqualität von Menschen mit metastasiertem Lungenkrebs deutlich verbessert, sondern auch deren Lebenserwartung. Die klassische, invasive Behandlung bis zum Schluss kann hingegen Leben verkürzen. Grundsätzlich beginnt die palliative Betreuung mit der Aufklärung der Patienten, einer Schmerzbehandlung sowie einer psychologischen Betreuung – nicht nur der Patienten, sondern auch von deren Angehörigen. Eine solche Begleitung ist im Klinikalltag häufig keine Selbstverständlichkeit. „Es herrscht bei den Ärzten und beim Pflegepersonal noch sehr viel Unsicherheit“, sagt Steckkönig bedauernd. „Denn aufgrund der Vorstellung von Palliativmedizin als Sterbensbegleitung, wird diese oft zu spät hinzugezogen.“

7. Wirkt Methadon gegen Schmerzen und den Krebs?

Der Drogenersatz Methadon kann die Wirkung einer Chemotherapie bei Krebspatienten verstärken – so lautete die Aussage eines TV-Berichts vor einigen Monaten. Seitdem berichten Onkologen häufig von Krebspatienten, die nach dem Schmerzmittel verlangen, weil sie sich eine heilende Wirkung erhoffen. „Wir lehnen den Wunsch dieser Patienten jedoch ab“, sagt die Palliativmedizinerin und Onkologin Annette Steckkönig vom RBK. Das entspricht der Stellungnahme unter anderem der deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie, der deutschen Schmerzgesellschaft und der deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin: Sie weisen jeweils auf die unzureichende Datenbasis und die möglichen Risiken einer Anwendung von Methadon zur Tumortherapie hin. „Die Patienten müssen sich im Klaren sein, dass es sich bei Methadon um ein gefährliches Medikament mit bekannten Nebenwirkungen und unbekannten Wechselwirkungen handelt“, sagt Annette Steckkönig. Folgen sind unter anderem Schwindel, Erbrechen sowie Blutdruckanstieg, Herzrasen bis hin zu Herzrhythmusstörungen. Bei Überdosierung könne es sogar potenziell tödlich wirken. Für die Palliativmedizinerin hat Methadon durchaus seine Berechtigung, um sogenannte neuropathische schwer behandelbare Schmerzen zu lindern. „Aber als Krebsmedikament ist es definitiv nicht geeignet.“