Statistisch gesehen hat jeder Mensch irgendwann in seinem Leben einmal Kreuzschmerzen. Foto: dpa

Kreuzschmerzen sind einer der häufigsten Gründe für einen Arztbesuch. Doch Schuld an dem Leiden sind weniger Schäden an der Wirbelsäule als vielmehr Bewegungsmagel und Stress. Was man gegen Rückenbeschwerden tun kann, diskutieren Experten in Stuttgart.

Stuttgart - Der Mensch ist von Natur aus ein Läufer. Doch die Natur ist in der modernen Arbeitswelt nicht das Maß der Dinge. Denn dort sitzt der Mensch – im Büro, im Auto oder in der Bahn und zuhause vor dem Fernseher. Das hat Folgen: Bauch- und Rückenmuskulatur, die die Wirbelsäule in Position halten sollen, verkümmern, die Stoßdämpferwirkung der Bandscheiben lässt nach. Und im Rücken fängt’s an zu zwicken.

Statistisch gesehen hat jeder Mensch irgendwann in seinem Leben einmal Kreuzschmerzen. Häufig verschwinden sie nach rund sechs Wochen wieder. Teils sind sie aber so stark, dass sich die Betroffenen kaum schmerzfrei bewegen können. In Krankschreibungen tauchen Rückenleiden oft an erster Stelle auf. So heißt es im Bericht der Krankenkasse DAK, dass Rückenleiden und andere Muskel-Skelett-Erkrankungen 22 Prozent aller Abwesenheiten verursachten.

Mediziner versuchen daher mit immer neueren Methoden, dem Schmerz auf die Spur zu kommen. Auf Kongressen werden Untersuchungs- und Therapiemethoden vorgestellt und diskutiert. Vom 30. November an auch in Stuttgart: Da tagt die Deutsche Wirbelsäulengesellschaft (DWG) im Internationalen Congresscenter Stuttgart. Und schon jetzt sagt der Präsident der DWG, Christian Knop: „Den Ärzten kommt besonders bei der Behandlung des Rückenschmerzes immer mehr Verantwortung zu.“

Detektivische Suche nach Ursachen

In den meisten Fällen sind Rückenschmerzen nicht krankheitsbedingt – etwa durch eine bakterielle Infektion oder einen sich ausbreitenden Tumor. Auch Unfälle, bei denen die Wirbelsäule zu Schaden kommt, sind nicht die Hauptursache. Bei vielen Patienten sprechen Ärzte von einem sogenannten unspezifischen Schmerz. „Die Schmerzen am Rücken sind nicht auf ein Problem der Wirbelsäule zurückzuführen“, sagt Knop, der im Klinikum Stuttgart Direktor der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie ist. Bei der Suche nach den Ursachen müssen Ärzte daher detektivisch vorgehen. Dabei ist nicht bildgebende Verfahren das wichtigste Mittel der Diagnose, sondern das Gespräch und die klinische Untersuchung.

Auffälligkeiten in den Bildern – so die Erfahrung – werden oft als Schmerzursache gedeutet, obwohl sie in vielen Fällen nicht unbedingt dafür verantwortlich sind. Jeder Mensch zeigt ab einem Alter von Mitte 20 Abnutzungserscheinungen an der Wirbelsäule – ohne, dass er dSchmerzen verspürt. In der Schmerzambulanz des Klinikums Stuttgart führt deren Leiter, der Oberarzt Stefan Junger, daher viele Gespräche mit Patienten. Dabei wird geklärt, in welcher Situation die Schmerzen ihren Anfang genommen haben, wie intensiv sie sind, ob es Vorerkrankungen gegeben hat und wie die Lebenssituation aussieht. Zu den Auslösern gehören neben Bewegungsmangel, Haltungsfehler oder einer Überlastung der Wirbelsäule aufgrund von Übergewicht auch seelische Faktoren. „Eine psychische Anspannung führt zu schmerzhaften Verspannungen der Nacken- und Rückenmuskeln“, so Junger. Der Schmerz wird zur Krankheit, obwohl ein akuter Auslöser fehlt.

Was meist folgt, ist eine sogenannte multimodale Schmerztherapie. Zusammen mit einem Team von Physio- und Ergotherapeuten sowie Psychologen stellt der Schmerzmediziner Junger eine Behandlung zusammen, die die Rückenmuskulatur des Patienten wieder stärkt. „Wir geben auch Schmerzmedikamente – aber primär mit dem Ziel, dass die Betroffenen ihre Schonhaltung aufgeben. Sonst bleibt die Verkrampfung bestehen, der Schmerz ebenso, was dazu führt, dass auch die Nerven empfindlicher werden. Die Folge: Noch mehr Schmerzen.“ Der Großteil der Rückenschmerz-Patienten könne so erfolgreich behandelt werden, sagt Junger.

In manchen Fällen kann der Schmerzreiz unterbrochen werden

Doch was ist dann mit den Statistiken, nach denen die Operationen an der Wirbelsäule ständig zunehmen? So hat die Bertelsmann Stiftung im Juni Zahlen vorgelegt, nach denen es 2015 rund 611 000 Krankenhausaufenthalte wegen Erkrankungen der Wirbelsäule und des Rückens gegeben hat. Das sind 154 000 Fälle mehr als 2007, ein Plus von 34 Prozent. Beim Kongress in Stuttgart wollen sich die Experten auch mit dieser Frage auseinandersetzen. Wobei Christian Knop sicher ist, dass die Gründe für diesen Zuwachs vor allem in der Art der Datenerhebung zu finden sind: „Operationen an der Wirbelsäule sind komplexe Eingriffe“, sagt er. Und diese setzen sich aus einzelnen Prozeduren zusammen, die jede für sich aber nicht als vollwertige OP gezählt werden dürften. Aber genau das sei geschehen.

Um verlässliche Zahlen zu gewinnen, versucht die DWG, ein Wirbelsäulenregister zu etablieren. Eine Datenbank, in die eigens von der Fachgesellschaft zertifizierte Krankenhäuser und Ärzte Informationen über Operationen einspeisen – deren Art, Verlauf und die Folgen. Bislang kann dort auf Daten von 38 000 Operationen zugegriffen werden, erstellt von 25 Kliniken, die sich nun „Wirbelsäulenzentrum“ nennen dürfen. Hier sind kurze Wege für den Patienten das Ziel: „Patienten ist es wichtig, dass das, was ihnen hilft, zusammengeführt wird“, so Knop. Und dass dann verschiedene Therapeuten zusammen für den Patienten das beste Konzept entwickeln.

Ein Kästchen sondert Stromimpulse ab

Dazu zählt auch die Neurochirurgie, die Schmerzen mit operativen und minimalinvasiven Eingriffen behandeln kann. In manchen Fällen kann beispielsweise der Schmerzreiz unterbrochen werden – etwa mit der epiduralen Rückenmarkstimulation. So wie im Fall einer Mittvierzigerin, die nach einem Motorradunfall vor 20 Jahren an ständigen und starken Schmerzen gelitten hat – und sich Elektroden auf die Nerven im Wirbelsäulenkanal hat legen lassen. Ein Kästchen, so groß wie eine Streichholzschachtel, sondert Stromimpulse mit einer Frequenz von 10 000 Hertz ab.

Im Klinikum Stuttgart setzt der Neurochirurg Guido Nikkhah dieses Verfahren ein: „Die Stromimpulse sind wie ein Störsender, der in die Schmerzleitung eingebaut wird, sodass diese Signale das Gehirn mit den schmerzverarbeitenden Zentren nicht erreichen.“ Die Verfahren kommen allerdings nur für wenige Schmerzpatienten infrage und auch nur dann, wenn die klassische Kombinationstherapie nicht ausreicht. „Und nicht jedem ist wohl dabei, wenn er zu hören bekommt, dass ihm ein Apparat unter die Haut implantiert wird“, sagt Nikkhah. Auch die Patientin mit dem Motorradunfall war zunächst skeptisch. Jetzt, nach vier Wochen, ist sie begeistert: Sie fühle sich wie neu geboren – so, ganz ohne Schmerz.

Experten geben Tipps für ein gesundes Rückgrat

Gut jeder vierte Deutsche sucht mindestens einmal pro Jahr wegen Rückenschmerzen einen Arzt auf. Viele werden chronisch krank. Was helfen kann, die Schmerzen zu lindern, wann eine Operation sinnvoll sein kann – und wann nicht, das haben Experten bei unserer Telefonaktion erklärt – und zwar vom Klinikum Stuttgart: Christian Knop, Ärztlicher Direktor der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie sowie Leiter des Interdisziplinären Wirbelsäulenzentrums, Stefan Junger, Leiter der Schmerzambulanz, und Guido Nikkhah, Oberarzt der Neurochirurgischen Klinik. Vom Landesverband des Deutschen Verbandes für Physiotherapie waren vertreten: Vorstandsmitglied Michael Austrup sowie Klaus Breyer von der Physiotherapie-Praxis Physio 21 Stuttgart und Andreas Haag vom Physiotherapiezentrum Unicum Stuttgart.

Ich bin 54 Jahre alt und schon zweimal wegen eines Bandscheibenvorfalls operiert worden. Doch jetzt hat sich Narbengewebe gebildet und die Schmerzen haben eher zu- denn abgenommen. Die Ärzte raten von einer weiteren Operation ab. Was kann ich jetzt noch tun?

In diesem Fall könnte eine Rückenmarkstimulation die Lösung sein. Die Erfolgsrate bei solchen Schädigungen, die andauernde Schmerzen verursachen, liegt bei rund 80 Prozent. Und, was wichtig ist: Wir können die Effektivität testen, bevor der Generator in Gesäßhöhe unter die Haut implantiert wird. Die Testphase dauert etwa vier Wochen. Bei Unwirksamkeit werden die Elektroden einfach entfernt.

Bei mir wurde Skoliose diagnostiziert, die Schmerzen sind heftig. Ich werde zwar medizinisch betreut, frage mich aber, ob ich selbst auch etwas tun kann?

Grundsätzlich tut auch bei dem Krankheitsbild Skoliose Bewegung gut. Denn Betroffene sollten versuchen muskulär der Verkrümmung des Rückgrats entgegenzuwirken. Es gibt eine spezielle Krankengymnastik nach Katharina Schroth, die auf Skoliose ausgerichtet ist. Dabei wird an einer aufrechten haltung – mit und ohne Geräte – gearbeitet.

Ich sitze viel im Büro und abends plagt mich ein dumpfer Schmerz im unteren Rücken. Was kann dagegen helfen?

Die Antwort lautet: Bewegung. Jeder, der viel im Sitzen arbeitet, sollte versuchen, möglichst viele Tätigkeiten weg vom Stuhl zu verlagern. Beispielsweise statt interne E-Mails zu verfassen, lieber gleich zum Kollegen hinlaufen. Aufzüge meiden, lieber die Treppe nehmen und beim Sitzen häufig eine kleine Bewegungspausen einlegen – also alle ein bis zwei Stunden. Wichtig ist auch, den Arbeitsplatz nach ergonomischen Gesichtspunkten, prüfen zu lassen. Und – was ebenfalls wichtig ist – wer tagsüber sitzt, sollte abends ein paar Dehnungs- und Streckübungen zu machen. Eine Viertelstunde pro Tag ist schon ausreichend.

Der Schaden an meiner Wirbelsäule sollte eigentlich operiert werden, sagen die Ärzte. Doch das versuche ich zu vermeiden: Ich bin mit Anfang 80 Jahren doch sicher zu alt für eine Operation, oder?

Die Operationsmethoden haben sich sehr verfeinert, weshalb es eigentlich keine Altersgrenze für Operationen mehr gibt. Ob ein solcher Eingriff sinnvoll ist, bemisst sich auch nicht nur anhand des Krankheitsverlaufs, sondern auch davon, wie aktiv der Betroffene noch im Leben steht und was er noch vorhat. Allerdings muss natürlich auch gesagt sein, dass das Knochenmaterial im Alter nicht besser wird. Ist der Knochen zu brüchig, wird der Arzt genau prüfen, ob eine Operation noch sinnvoll ist.

Grundsätzlich mal gefragt: Wann ist der Rückenschmerz ein Notfall?

Ein Arztbesuch steht an, wenn der Rückenschmerz einem Unfall gefolgt ist – einem Sturz oder Autounfall. Ebenso, wenn eine Krebserkrankung vorliegt oder der Rückenschmerz mit plötzlich auftretendem Fieber und Schüttelfrost einhergeht. Taubheitsgefühle oder Lähmungen in den Beinen sowie Probleme beim Toilettengang können ebenfalls ernstzunehmende Warnzeichen sein.

Sind Schmerzmittel schon bei leichten Rückenschmerzen sinnvoll?

Der frühzeitige und richtige Einsatz von Schmerzmitteln kann das Risiko einer Chronifizierung reduzieren. Andererseits sollte die Schmerzbehandlung nicht allein auf Medikamenten beruhen, sondern durch Sport und weitere Therapien begleitet sein. Denn der allzu unbesorgte Einsatz von Schmerzmitteln führt schnell zu weiteren gesundheitlichen Folgen. Daher gilt: auch rezeptfreie Medikamente sollten ohne ärztlichen Rat keinesfalls länger als zwei Wochen eingenommen werden.