Bildertheater: Julischka Eichel als Jesus auf der Leinwand in „Das 1. Evangelium“ in Stuttgart Foto: JU

Kay Voges bringt fürs Staatsschauspiel Stuttgart „Das 1. Evangelium – frei nach dem Matthäus-Evangelium“ zur Uraufführung. Der viel gefragte Regisseur präsentiert ein überbordendes Spektakel mit klassischer Musik und Popsongs, philosophischen und poetischen Zitaten.

Stuttgart - Ein junger Mann schleicht durch die noch unbesetzten Sitzreihen und schwenkt ein mit Weihrauch gefülltes Gefäß. Die Lichtschlitze in den Wänden glühen rot. Es riecht sakral, doch das Licht erinnert an das in einem Fotolabor. Regisseur Kay Voges ist eben auch schon 45, er kennt noch die vordigitale Zeit, in der Filme in der Dunkelkammer entwickelt wurden. Schon bevor der zweieinhalbstündige Abend „Das 1. Evangelium - frei nach Matthäus“ am Freitag im Schauspielhaus Stuttgart beginnt, also zwei Hinweise, worum es geht: Kirche und (Film)Kunst. Drei Videoleinwände zeigen die Schauspielerin Rahel Ohm, eine Mischung aus alter Prinzessin und Engel Gabriel. Sie spricht aus, womit alles begann: Mit dem Wort. Doch während sie der Welt einen Anfang zu geben versucht, tritt sie unaufhörlich auf der Stelle. Später wird konsequent durcheinander gemurmelt, ob am Anfang nicht doch eher das Licht, der Mensch, die Finsternis, der Tod gewesen sein könnte.

Der viel gefragte Regisseur Kay Voges, zuletzt mit „Borderline-Prozession“ zum Berliner Theatertreffen eingeladen, ist fest entschlossen, keine Eindeutigkeiten aufkommen zu lassen. Er hat die Philosophen von Gilles Deleuze bis Alain Badiou wohl gelesen. Das Rhizomatische, ineinander Verschlungene, Widersprüchliche ist Teil seines Regiestils. Voges führt vor, womit man zu tun hat, wenn man Nouveau-Vague-Regisseur Jean-Luc Godard folgt: „Es ist an Ihnen, das Dritte aus zwei Bildern zu bilden.“ Bilder legen sich übereinander, man orientiert sich nur schwer.

Ein B-Movie über Jesus

Nächste Szene: Immer schmerzvoller verzieht Marietta Meguid das Gesicht, als sie aufsagt, wer auf wen folgte, von Abraham, der Isaak zeugte bis sie endlich bei Jakob angelangt ist, der „zeugte Josef, den Mann Maria, aus der gezeugt wurde Jesus, genannt Gesalbter.“ Und da setzen auch schon die Wehen ein, Schmerzen und Gestöhn. „Cut!“,ruft Schauspieler Paul Grill und sagt mit strahlender Miene: „Danke! Das haben wir.“

Man ist also mitten in einem Filmdreh, am Set eines Jesus-B-Movies. Und das klassische Theater? Wird ans Kreuz genagelt. Zu sehen ist hinter dem Videotryptichon eine auf zwei Ebenen bespielbare Fläche. Eine von Michael Sieberock-Serafimowitsch gestaltete Drehbühne mit Kammern, auf der ein weiterer Aufbau zusätzliche Szenenanordnungen erlaubt. Ein sich langsam drehender Bildergenerator, ein Fantasiekreisel tut sich auf. Hier lassen sich zu Bachs H-Moll-Messe und der Matthäuspassion, zum Sound der 90er-Band REM und dem musikalischen Leitmotiv der Glaubens-und-Paranoia-TV-Serie „Homeland“ idyllisch schöne und erschreckende Stand- und Bewegtbilder betrachten, dazu Zitate von Walter Benjamin bis Heiner Müller. Passionsspiele Oberammergau treffen auf Hollywood. Adam und Eva, Salomé und der Kopf von Johannes, dem Täufer tanzen durchs Bild. Der von Peer Oscar Musinowski mehr schlecht als recht zappelnde Epileptiker, den Jesus in Matthäus’ Evangelium heilt, liegt im Krankenbett. Musinowski hat Rasta-Haare wie Tingeltangelbob aus der Trickfilmserie „Die Simpsons“, wie dieser echauffiert er sich über die Oberflächlichkeit der anderen und rastet böse aus. Schauspielschüler der Stuttgarter Hochschule machen gute Figuren als Assistenten, Standbildpersonal und Jesus-Doubles, obwohl sie meist nur schweigen und bedeutungsvoll dreinschauen.

Ein Cowboy als Filmproduzent

Es sind beeindruckende, von Tobias Dusche und Daniel Keller live gefilmte Clips, die sich aus der Leidensgeschichte Jesu zusammensetzen (Fotos und Video: Voxi Bärenklau und Robi Voigt). Anders als Filmregisseur Fred, der zwischenzeitlich plant, eine „unendliche Installation“ zu zeigen, will Theaterregisseur Kay Voges doch nicht auf Geschichten verzichten. Nach einiger Zeit taucht ein Mann (Holger Stockhaus) mit Schnurrbart und Cowboystiefeln auf, der aussieht wie Dennis Hopper in Wim Wenders Film „Der amerikanische Freund“. Er ist der Filmproduzent, ein Zyniker, der an Kunst kein bisschen interessiert ist. Filmregisseur Fred allerdings ist durchaus an Kunst interessiert, stammelt ganz aufgeregt von der schönen Dichtung: „Wissen Sie, ich glaube die Poesie findet dich nicht mit den Gegebenheiten ab und auch nicht mit den offiziellen Definitionen von Sein, sondern meiner Meinung nach stellt die Poesie heraus, wie einmalig die Dinge sind, die einfach nur im Fluss sind. Es ist die Möglichkeit, die Schwere der Welt zu erfahren und zugleich das eigene Vermögen, diese Schwere aufzuheben, sich davon zu befreien. Diese Befreiung verwirklicht sich in notwendiger und zugleich irrealer, riskanter Form, als ironisches, gar unmotiviertes Spiel, als Art und Weise, dem Gegebenen ebenso zu spotten wie der Ernsthaftigkeit der Kunst“.

Kay Voges übt Konsumkritik

Man darf das als Selbstaussage des Regisseurs Kay Voges verstehen. Ebenso wie die Kritik des Produzenten, das sei doch alles schön und gut, doch verstehe das womöglich kein Mensch selbstironisch das eigene Tun kommentiert. Man mag das albern finden. Es schadet der Unternehmung insgesamt aber nicht, denn man spürt, bei aller Ironie ist es dem bibel- und philosophiefesten Voges ernst. Es ist schwer möglich, sich dem Wirbel voller Leid, Blut, Schweiß und Tränen zu entziehen. Julischka Eichel spielt die Jesusdarstellerin in ihrer Sehnsucht nach Liebe und Versöhnung, aber auch in ihrem Wahn, wenn sie ummoralische Angebote von Dämonen erhält, mit verzweifelter Wucht. Paul Grill verkneift sich einmal seine „Achtung, wir spielen hier nur“-Haltung und rast wie ein Besessener durch die Szenerie, wird irr nicht nur, weil der Kuss zwischen Jesus (Julischka Eichel) und Judas (Manolo Bertling) allzu lang ausfällt. Er sackt innerlich zusammen, wenn der Produzent ihn vor der kompletten Filmcrew abwatscht. Stockhaus zeigt wie schon in Produktionen wie „Staub“ oder „Raub der Sabinerinnen“, dass er improvisieren kann und radebrecht von Pasolini und „Beeeergman“, das seien ja noch Regisseure! Könner! So amüsant Stockhaus ist, steht das Solo schief unpassend in der bilderseligen Szenerie. Als knipste jemand mitten in der Filmvorführung das Neonlicht an. Zu rechtfertigen ist das allenfalls damit, dass Voges seinen Zuschauern nicht einmal gestattet, in einem Bilderstrudel zu versinken. Kein Konsum! Auch nicht der Kunst. Jesus liegt am Ende gekrümmt im Einkaufswagen: Voges ist da ganz bei Pier Paolo Pasolini, der 1965 „Das 1. Evangelium“ verfilmt hat, und sich ganz grundsätzlich gegen jegliche Vereinnahmung stemmte, in seinen „Lutherbriefen“ die Dummheit der Fernsehästhetik verdammte, Konsumkritik übte.

Keine Heilsbotschaft wird hier erzählt, aber eine Geschichte vom Glauben an die Kunst, vom Wahn, vom Zweifel. „Im Zweifel für den Zweifel“, da ist der Regisseur dann doch wieder ganz popkulturell unterwegs mit Liedzeilen der Schlau-Popband Tocotronic. Wenn überhaupt, ist dieses Zitat die einzige Botschaft, die Kay Voges dem Publikum mitgibt. Ein sehenswerter Abend.

Weitere Termine: 20., 24., 29. Januar. 2., 8., 17. Februar. 4., 18., 29. März. Karten 0711 / 20 20 90.