Kay Voges Foto: Birgit Hupfeld

Die Stücke des Regisseurs Kay Voges bewegen sich zwischen Bildender Kunst, Theater, Film und Liturgie. An diesem Freitag bringt der Dortmunder Intendant „Das 1. Evangelium“ am Schauspiel Stuttgart zur Uraufführung.

Stuttgart - „Religion ist Kopfkino“, sagt Kay Voges und zieht an seiner Zigarette. Ein paar Schritte entfernt zündet ein schlanker Mann gerade ein etwas verloren wirkendes Teelicht an, während ein paar Spielautomaten neben ihm tapfer ihr blasses Drei-Uhr-Nachmittags-Blinken blinken. Trist ist es in der Stuttgarter Eckkneipe, in der der Intendant des Dortmunder Schauspiels vor einem Glas Cola sitzt. Kühl, klebrig, unscheinbar. Der richtige Ort also, um über Jesus zu sprechen – zumindest in diesem Fall.

Früher sei er einmal gläubig gewesen, erzählt Voges mit nachsichtigem Lächeln. Mit der Bibel und ihren Bildern sei er groß geworden, ging einst als Missionar auf die Straße und redete sich regelmäßig in Rage, um Menschen vom wahren Glauben zu überzeugen. „Heute ist es das genaue Gegenteil“, gibt er zu und tippt mit der Zigarette gegen den Aschenbecher. „Mit der Zeit habe ich gelernt, dass die Welt komplexer ist. Ich glaube heute an Vieles, aber es ist diffuser und widersprüchlicher als früher. Zu lernen, diese Widersprüche auszuhalten, ist auch das Konzept meines Theaterabends.“

Ein bildgewaltiger Rausch

Ab Freitag wird Kay Voges die Passionsgeschichte Christi auf die Bühne des Stuttgarter Staatstheaters bringen: Ein bildgewaltiger, multikomplexer Rausch soll „Das 1. Evangelium“ werden – weit weg von leidenschaftlichem Glaubensbekenntnis oder einfacher Religionskritik. Statt stringent den Leidensweg Christi nachzuerzählen, will die vielschichtige Inszenierung dann vor allem die Jesus-Bilder ihrer Zuschauer hinterfragen. Wie sieht er aus, ihr persönlicher Heiland? Aus welchen Sätzen und Bildern setzt sich ihr Glauben zusammen? Wie unterscheidet er sich von dem ihres Nebensitzers?

Den erzählerischen Rahmen hierfür bietet zunächst die Geschichte eines Regisseurs, der sich selbst mit der Verfilmung der Passionsgeschichte abmüht. Auf der Drehbühne des Staatstheaters wird diese dann jedoch gleich in doppelter Ausführung erzählt. Das Stück gibt kurze Einblicke in verschiedene Räume, die sich jeweils auf ihre Art mit kunsthistorischen, alltäglichen oder popkulturellen Bildern der Passionsgeschichte auseinandersetzen. Zu sehen ist eine Bar, in der jemand ein Brot teilt. Ein Set, an dem berühmte Bibelmalereien der Renaissance nachgestellt werden. Ein psychiatrische Station. Ein Diner. Ein Wohnwagen. Orte, die auf den ersten Blick recht wenig miteinander zu tun haben.

Eine Zumutung sei dieser Bildersturm ganz sicher, ergänzt Voges lachend – „in dem Sinne, dass es Mut braucht, seine Komplexität zuzulassen und vielleicht die Schönheit darin zu erkennen“. In dem bewussten Überangebot aus Szenen, Ikonografien und Blickwinkeln alles zu sehen, sei nämlich gar nicht der Anspruch des Stücks. Voges wolle schließlich nicht erzählen, wie sein Jesus aussehe, sondern Vorschläge in den Raum werfen, was er denn sein könnte – und so ein dreidimensionales Bild erschaffen: „Die Antwort ist für jeden individuell. Der Zuschauer schneidet sich an diesem Abend quasi seinen eigenen Film“, erklärt er. Kopfkino eben.

Voges hält nicht viel von stringenten Erzählungen

Hinter diesem Ansatz stecken zwei Überzeugungen. Zum einen hält Voges den Zweifel heute für friedensstiftender als den Glauben. Statt sich dem Dogmatismus einer bestimmten Glaubensrichtung zu unterwerfen und damit in Kauf zu nehmen, andere Möglichkeiten auszugrenzen, plädiert er dafür, mit Widersprüchen und der Erkenntnis zu leben, dass die eigene Interpretation auch die Falsche sein könne – gerade in einer durchdigitalisierten Welt, in der das ständige Nebeneinander von Informationen und Sinnzusammenhängen so offensichtlich ist wie selten zuvor.

Zum anderen hält er, der für sein experimentelles Gegenwartstheater bekannt ist, nicht viel von stringenten Erzählungen. Eine Narration, die von A nach B erzählt werde, sei heute Aufgabe von Unterhaltungsformaten wie „Das Traumschiff“ oder Musicals wie „Cats“, so Voges. Das Theater hingegen solle Gegenwart reflektieren. Die sei heute aber nun mal nicht stringent, sondern von Gleichzeitigkeit gekennzeichnet – und das müsse man als Künstler annehmen. „Die Digitalisierung fordert von uns einen neuen Evolutionsschritt: Wir müssen lernen, das Schöne darin zu sehen, statt in Panik und Nationalismus zurückverfallen. Wir dürfen keine Gesellschaft der Burn-Outer werden.“

Premiere am Freitag, 19. Januar, 19.30 Uhr, Schauspielhaus Stuttgart