Blick in den Kreis Ludwigsburg: Die Wahlplakate haben ausgedient. Foto: Simon Granville/Archiv

Die Region Stuttgart wird personell stark vertreten sein im Bundestag – auch mit einigen ganz neuen Köpfen. Wer sind die Gewinner, wer die Verlierer?

Stuttgart - Was ist das für eine Wahlnacht gewesen – auch in der Region Stuttgart. So spät wie nie tröpfelten die Ergebnisse der Stimmenauszählungen aus den einzelnen Wahllokalen ein, weil es partiell Engpässe bei der Auszählung der Briefwahlstimmen gab. Für den Kreis Göppingen beispielsweise war auch um 1 Uhr in der Nacht der Ausgang noch offen, weil die Zahlen aus Ebersbach an der Fils fehlten. Und so war es für viele Kandidatinnen und Kandidaten in den zehn Wahlkreisen eine stundenlange, teilweise bis in den Montagmorgen hineinreichende Zitterpartie, ehe letztlich Klarheit herrschte. Wie stellt sich die Lage dar, nachdem sich der Nebel gelichtet hat?

Wundenlecken bei der CDU

Festzuhalten ist: Die Region Stuttgart wird künftig 30 Bundestagsabgeordnete stellen – zwei mehr als bisher –, die Landeshauptstadt selbst mit eingerechnet. Und: Trotz dramatischer Verluste von bis zu sieben, acht Prozent bei Erst- wie Zweitstimmen gelang es der CDU, ihr Revier rund um Stuttgart mühsam zu verteidigen und fast alle Direktmandate zu holen – mit Ausnahme des Wahlkreises Stuttgart I, den Cem Özdemir für die Grünen gewann.

Wirkliche Freude wollte bei der regionalen Union trotzdem nicht aufkommen angesichts eines insgesamt desaströsen Ergebnisses, das mit rund 30 Prozent Stimmenanteil bei den Erststimmen so schlecht wie nie bei einer Bundestagswahl ausfiel. „Wir sind mit mehr als einem blauen Auge davongekommen“, konstatierte Michael Hennrich, der im Wahlkreis Nürtingen zum sechsten Mal den Sprung nach Berlin schaffte, „aber zufrieden können wir nicht sein.“

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Sein Parteifreund und Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium Steffen Bilger, der sich im Wahlkreis Ludwigsburg durchsetzte, ahnt auch die Gründe fürs schlechte Abschneiden. „Wir haben im Wahlkampf viel Kritik an der Kandidatenkür zu hören bekommen und am Kanzlerkandidaten selbst“, betont er und sprach damit offen aus, was viele andere noch hinter vorgehaltener Hand artikulieren: Mit Armin Laschet war in der Region Stuttgart kein Staat zu machen. Da wird, so die unmissverständliche Grußadresse Richtung Parteispitze in Berlin, im Nachgang der Wahl manches aufzubereiten sein.

Freude bei den Grünen nicht ungetrübt

Unzufriedenheit herrscht auch bei der Linken und der AfD, beide in der Region durchweg mit Minuszeichen vor den Prozentzahlen. Doch selbst bei den Grünen herrscht nicht nur eitel Sonnenschein – trotz der durchweg zu verzeichnenden Zugewinne im Vergleich zur Wahl 2017. Gemessen am Abschneiden bei der Landtagswahl im Frühjahr blieb die Klima-Partei nämlich deutlich auch hinter den eigenen Erwartungen zurück, wie etwa Sandra Detzer sagt, die im Wahlkreis Ludwigsburg mit 20,3 Prozent das beste Grünen-Ergebnis in der Region außerhalb Stuttgarts erzielte: „Der Wermutstropfen: Wir haben das Ziel verpasst, bundesweit Nummer eins zu werden.“

Und so sieht das auch Tobias Bacherle, der in Böblingen für die Grünen den Sprung in den Bundestag schaffte. „Da wäre mehr drin gewesen“, so sein Fazit – auch mit Blick auf die bereits eingestandenen Fehler von Spitzenkandidatin Annalena Baerbock.

Neue Gesichter für Berlin

Unabhängig davon steht Bacherle für eine Reihe neuer, interessanter Köpfe aus der Region, die künftig im Berliner Parlament mitreden werden. Jahrgang 1994 ist der Sindelfinger Stadtrat und Student der Politikwissenschaft, er verkörpert den engagierten Politnachwuchs. Oder Macit Karaahmetoğlu, Jahrgang 1968, der im Wahlkreis Ludwigsburg für die SPD kandidierte und am unverhofften Aufschwung seiner Partei, den es auch im Mittleren Neckarraum gab, partizipierte. Er wurde geboren in Rize, einer türkischen Stadt am Schwarzen Meer, und kam mit elf Jahren ohne Deutschkenntnisse nach Hemmingen. Heute arbeitet er als Rechtsanwalt in seiner eigenen Kanzlei. Oder Stephan Seiter, Jahrgang 1963, in Fellbach beheimatet, im Brotberuf Professor für Volkswirtschaftslehre in Reutlingen – und ein echter politischer Quereinsteiger. Erst 2016 trat er in die FDP ein, künftig vertritt er den Wahlkreis Waiblingen im Bundestag.

FDP will mitregieren

Seiter profitierte von dem guten Abschneiden der FDP, die speziell im Rems-Murr-Kreis traditionell eine Hochburg hat. Die Liberalen konnten aber durchweg zulegen und zählen auch im Ballungsraum am Neckar klar zu den Gewinnern. „In der Tat“, sagt der alte und neue Bundestagsabgeordnete Florian Toncar aus dem Wahlkreis Böblingen, „wir können wirklich sehr zufrieden sein.“ Und eines ist ebenfalls klar: Diesmal will die FDP mitregieren. Toncar wird nach dem Stand der Dinge als Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion im Bundestag in die Koalitionsgespräche involviert sein. Der promovierte Jurist geht davon aus, dass spätestens übernächste Woche die Sondierungen beginnen und „jeder mit jedem reden wird“. Dabei werden FDP und Grüne schauen, „was CDU und SPD jeweils anbieten“, wie er selbstbewusst betont: „Es werden Zusagen kommen müssen von den Parteien, die den Kanzler stellen möchten.“

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