Die Demo gegen Rassismus auf dem Karlsplatz erinnerte bisweilen eher an ein buntes Kulturfestival denn an Kulturkampf. Von Selbstbeweihräucherung zu sprechen, wäre zu kurz gedacht, kommentiert unser Redakteur Sascha Maier.
Stuttgart - In der Stuttgarter City gegen Rassismus auf die Straße zu gehen, wirkt etwa so, wie in der Sahara gegen die Schneestürme oder in der ostdeutschen Provinz gegen Flüchtlinge zu protestieren. Denn die gibt es dort nicht oder kaum, genauso wenig wie Stuttgart ein Nazi-Problem hat, auch wenn Alltagsrassismus natürlich auch in der weltoffenen Kesselstadt vorkommt. Wenn es am Freitag bei der Großdemo in der Innenstadt, die von einem breiten zivilgesellschaftlichen Bündnis getragen wurde, überhaupt einen greifbaren Gegner gab, war der nicht mehr als ein Zwerg.
Wüsste man nicht, dass bei den Bildungsplangegnern in der Vergangenheit auch NPDler und Identitäre mitmarschiert sind und Homosexuelle, die ihre Neigung aus angeblicher Gottesfürchtigkeit komplett unterdrücken, mit frenetischem Applaus auf der Bühne beklatscht wurden – man hätte fast Mitleid bekommen können mit dem Häufchen aus zwanzig, dreißig Personen, das da am Marktplatz von 800 Gegendemonstranten niedergebrüllt wurde.
Parallel dazu auf dem Karlsplatz eine Veranstaltung, die eher an ein buntes Kulturfestival denn an Kulturkampf erinnerte, wobei mindestens über 1200 weitere Personen, für die die Neue Rechte das Wort „Gutmenschen“ ersonnen hat, gegen rechte Umtriebe demonstrierten. Es gab Rap und Klassik auf die Ohren, Stuttgarts Ballett-Star Eric Gauthier brachte der Demonstrantenschar Hochkultur durch einen Flashmob näher. Richtig schön war’s, und es blieb bis zum Schluss friedlich.
Es geht um die Deutungshoheit
Böse Zungen könnten jetzt behaupten, dass so eine Party am Freitagnachmittag ein stumpfes Schwert gegen Rassismus ist und sich die Stuttgarter Kultur-, Bildungs- und Politik-Eliten hier im Grunde nur selbst gefeiert haben – ganz ähnlich der #wirsindmehr-Aktion auf Facebook, wo Hunderttausende, wenn nicht Millionen, ihren Profilbildern mit nur einem Klick ein politisches Statement hinzugefügt hatten.
Dennoch: Auch wenn es in Stuttgart undenkbar scheint, dass es nennenswerte Nazi-Aufmärsche geben könnte, die vergleichbar mit denen in Chemnitz sind, ist diese Art der Selbstvergewisserung wichtig für eine Stadtgesellschaft. Zumal es hier auch um die Deutungshoheit geht: Eine Woche zuvor hatte das Antifaschistische Aktionsbündnis Stuttgart und Region (AABS) zu einer Demo gegen Chemnitz auf dem Stuttgarter Marienplatz aufgerufen. Durch Auseinandersetzungen mit der Polizei, die in diesem Fall wohl auch nicht ganz unschuldig war, wurde die Aufmerksamkeit vom eigentlichen Thema abgelenkt.
Auch wenn sich der Vergleich zwischen den Jugendlichen unter den Kapuzenpullis mit den Antifa-Ansteckern, die Partisanen-Texte von Widerstandskämpfern skandieren und den Neonazi-Horden in Chemnitz, die „Adolf Hitler Hooligans“ brüllen, verbietet: Die Politik sollte dieses Thema keinen Kindern überlassen. Mehr noch: Es war fast schon überfällig, dass die Reaktion auf die Vorgänge in Chemnitz aus der liberalen Bürgergesellschaft kommt. Und selbst wenn es nur um das Gewissen geht – spielt das für den einzelnen etwa keine Rolle? Sollen sie sich doch ein bisschen feiern – wer es ihnen verbieten will, macht sich nur des Neids verdächtig.