Die Regierungsfraktionen bemühen sich in ihrer eigenen 100-Tage-Bilanz um ein Bild von Aufbruch und Dynamik. Sie wollen vor allem Verlässlichkeit demonstrieren. Die Opposition kritisiert das bisherige Handeln der Landesregierung dagegen scharf.
Stuttgart - Der Ort soll Aufbruch und Bewegung symbolisieren. Den Neckar mit seinen Weinbergen bei Stuttgart haben die Fraktionsspitzen von Grünen und CDU als Kulisse gewählt, um bei Häppchen und Selters vor Journalisten ihre Bilanz der ersten hundert Tage der zweiten grün-schwarzen Landesregierung zu inszenieren.
„Volle Kraft voraus“, das hatten Andreas Schwarz, der Grünen-Fraktionschef und sein CDU-Kollege Manuel Hagel zum Motto ihrer Präsentation gemacht. Die Absicht: Dynamik ausstrahlen in einer Koalition, deren Start viele als eher verhalten einstufen. Sie blieben jedoch am Ufer, auf dem Neckar zog derweil das Ausflugsfloß „Neckarbesen“ vorbei. Immerhin ein Elektro/Diesel-Hybridfahrzeug.
Verlässlichkeit wird groß geschrieben
Der Zeit voraus sein, verlässlich sein, Kontinuität verkörpern, die Begriffe zogen sich geradezu leitmotivisch durch den Auftritt von Schwarz und Hagel. An der Verbundenheit der beiden Partner, die im ersten Durchgang von Grün-Schwarz immer mal wieder auf eine harte Probe gestellt wurde, sollen nun keinerlei Zweifel aufkommen. Hagel bemühte das Bild vom Bindestrichland Baden-Württemberg: „Der Bindestrich verbindet“, nicht nur Baden und Württemberg, auch Grün und Schwarz. Aus den Gegensätzen entstehe „konstruktive Energie“, was für Hagel darin mündet: „Wir sind die Koalition, die Chancen schafft“.
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Blockaden, wie die der CDU-Fraktion beim Wahlrecht, sollen Vergangenheit sein. „Die CDU 2021 ist eine andere als die CDU 2020“, tut Andreas Schwarz kund und dankt Manuel Hagel lächelnd „für die verbindliche und vertrauensvolle Zusammenarbeit“. Hagel seinerseits versichert, „wir sind nicht immer einer Meinung, aber wir gehen immer ordentlich miteinander um, und wir stehen zu unseren Vereinbarungen.“
Selbstbewusste Fraktionen
Auch vom populären Ministerpräsidenten Kretschmann und seinen Ministern wollen sich die Fraktionen nicht das Wasser abgraben lassen: „Die Fraktionen sind die Kraftzentren der Koalition“ verkündet Hagel, der die CDU-Fraktion seit Anfang Mai führt, und verweist auf Initiativen aus den Fraktionen. Man werde das Wahlrecht ändern und damit die Demokratie stärken. Man werde das Klimaschutzgesetz ändern und das Land zusammen mit der Wirtschaft im Klimaschutz zum „Modell globaler Möglichkeiten“ machen. Hagel schwebt vor, dass künftig nicht Baden-Württemberger ins Silicon Valley reisen, um Innovationen zu erkunden, sondern dass „die Kalifornier zu uns kommen“. Nach den Ferien werde man das „modernste Klimaschutzgesetz verabschieden“, kündigte Andreas Schwarz an.
Grüne Zukunftsvisionen
Bei der Zukunftsmusik drehte der Vorsitzende der Grünen-Landtagsfraktion voll auf. In zehn Jahren werde das Land die Früchte ernten, für die die Koalition jetzt die Saat ausbringe. Schwarz orakelte von einem um zwei Drittel gesunkenen CO2 – Ausstoß im Südwesten im Jahr 2030, von einem klimaneutralen Baden-Württemberg im Jahr 2040 und von Zehntausenden Fotovoltaikanlagen, „die die Dächer und die Handwerker zum Strahlen bringen“. Schwarz ist davon überzeugt, „2030 ist Baden-Württemberg das Wasserstoffland Nummer Eins“ und das dank „der Verbindung von Ökologie und innovativer Wirtschaft“. Außer Klimaschutzgesetz und Wahlrechtsänderung ist dem Grünen die Enquete-Kommission wichtig, die die Koalition einrichten will, um die richtigen Lehren aus der Coronakrise zu ziehen und die Gesellschaft krisenfester zu machen. Und in der Gesundheitswirtschaft soll „Baden-Württemberg einer der führenden Gesundheitsstandorte weltweit“ werden.
Opposition macht nichts Zukunftsweisendes aus
Die SPD kann dagegen nichts Zukunftweisendes entdecken: „In den ersten 100 Tagen ist die Landesregierung noch auf keinen grün-schwarzen Zweig gekommen“, kommentiert der SPD-Landes- und Fraktionschef Andreas Stoch die Bilanz der Regierungsfraktionen. Grüne und CDU würden sich für reine Absichtserklärungen loben. „Dabei zeigen die ersten 100 Tage der Neuauflage, dass es wohl so weitergehen wird wie in den 1800 Tagen zuvor: Man predigt große Ziele und praktiziert den Stillstand.“
Beim FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke kam der Auftritt nicht gut an: „Das ist das beste Beispiel, dass die Regierung und die sie tragenden Fraktionen immer mehr zu einer Eigenmarketinggesellschaft werden“. Von „dringend notwendigen Innovationen, etwa in der Verwaltung oder bei Unterstützung der Wirtschaft“ sei nichts zu sehen.
Wirtschaft will schnellere Planungsverfahren
Die Wirtschaft erwartet Unterstützung im Strukturwandel. Das sagte der Hauptgeschäftsführer der Unternehmer Baden-Württemberg (UBW), Peer-Michael Dick. Der versprochene Bürokratieabbau sei zu unbestimmt und unkonkret. „Auch bei den Plänen, wie die Verwaltung modernisiert und Planungsverfahren beschleunigt werden sollen, muss die Landesregierung noch nachlegen.“ Auf das Jahr 2030 wollen die Unternehmer wohl nicht warten.