Meditation kann ein Weg sein, mit Stress umzugehen, sagt Dorothee Salchow, Coachin für Positive Psychologie. Foto: imago//imageBROKER/Oleksandr Latkun

Die Informationsflut wird immer größer, viele fühlen sich gestresst, Achtsamkeit soll helfen. Doch auch damit kann man es übertreiben: Warum der Zwang, gedanklich im Moment zu leben, oft unnötig ist, erklärt eine Coachin für Positive Psychologie.

Den Moment genießen, im Heute statt im Morgen leben, alles aufsaugen statt über das, was gestern war, zu grübeln – seit einigen Jahren geht der Trend zu mehr Achtsamkeit. Doch die Last des Loslassens kann auch schwer wiegen. Dorothee Salchow ist Trainerin und Coach für Positive Psychologie, Mediatorin und Rechtsanwältin und erklärt, warum Achtsamkeit zwar gut ist, das Gehirn aber nur bedingt dafür ausgelegt ist, im Moment zu leben.

Warum ist Achtsamkeit wichtig?

Im Sekundentakt prasseln auf das Gehirn Informationen ein. Leicht verdauliche Häppchen, damit die Aufmerksamkeitsspanne nicht überstrapaziert wird. Während in der Verfilmung von „Michel aus Lönneberga“ aus den 70er Jahren eine Szene noch 31 Sekunden dauerte, sind es bei „Shaun das Schaf“ noch 1,4 Sekunden, berichtet Dorothee Salchow. „Das Lebenstempo, die technische Beschleunigung und der soziale Wandel – all das ist ein Rad, das sich immer schneller dreht, weshalb auch Depressions- und Burn-out-Raten steigen“, sagt die Trainerin. Dem mit Achtsamkeit entgegenzuwirken sei enorm wichtig.

Stress ist eine körperliche Reaktion. Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol werden ausgeschüttet – die Herzfrequenz und der Blutdruck steigen. Später wirken Melatonin und Serotonin, beruhigende Hormone. Doch dazu komme es häufig gar nicht mehr, wir stünden ständig unter Stress, sagt Dorothee Salchow. Forscher der University of Pittsburg haben herausgefunden, dass schon kurze Aufmerksamkeitstrainings die negativen Effekte von Stress reduzieren. Und auch das Bundesgesundheitsministerium empfiehlt Yoga, Meditation und Entspannungstechniken.

Doch wie funktioniert das – im Moment leben?

Durch Instagram scrollen, während im Fernsehen eine Serie läuft, Podcast hören während des Kochens – wir nehmen uns häufig kaum mehr Zeit für eine Sache. Doch Dinge bewusst zu Ende bringen, bevor man etwas Neues beginnt – auch das sei Achtsamkeit. „Es geht um das nicht wertende Gewahrsein des gegenwärtigen Moments“, sagt Salchow. Das bedeute auch, bewusst einen Schritt vor den anderen zu setzen und darauf zu achten, was man sehe, höre, rieche. „Und das ganz wertfrei. Mitfühlend mit sich selbst sein, auch wenn die Gedanken vorpreschen, ist ein wichtiges Thema“, sagt die Coachin.

Ist das Gehirn dazu überhaupt ausgelegt?

Denn das so häufig gepredigte „im Moment leben“ kann Druck auslösen, der nach Dorothee Salchow nicht notwendig ist. „Es gibt diesen Ruhezustand, den Default Mode Network, in dem bestimmte Hirnareale aktiviert werden. Unser Gehirn ist also darauf ausgelegt, gedanklich zu schweifen und nicht darauf im Moment zu sein.“ Erstmals über diesen Zustand berichtete der Radiologe Marcus Raichle von der Washington University 2001. Nach Schätzungen von Psychologen verbringen Menschen rund die Hälfte ihrer Wachzeit mit Tagträumen. Ein Zustand, über den man sich häufig ärgert, weil man ihn mit Unproduktivität oder Ablenkung verbindet. Tatsächlich entstehen dabei kreative Ideen, Erinnerungen festigen sich und Pläne entstehen. Neurowissenschaftler um Robert Spunt vom California Institute of Technology fanden 2015 heraus, dass Tagträumerei, also schweifende Gedanken, nicht nur die Lebensplanung, sondern auch das soziale Miteinander ermöglichen.

Wenn die Gedanken beim nächsten Geburtstag, auf dem Berggipfel oder im Urlaub zur Steuererklärung oder zum Zahnarzttermin wandern, hilft also nur: Gedanken ziehen lassen, der nächste kreative Einfall ist dann nur noch eine mentale Ecke weiter.