Mehrere hundert Teilnehmer einer Demonstration ziehen mit Flaggen vom Königreich Preußen(schwarz-weiß-schwarz mit Adler) über die Augustusstraße am Fürstenzug in Dresden vorbei (Foto vom 28. Oktober 2023) Foto: dpa/Daniel Schäfer

Geheime Allianzen, finstere Verschwörungen, gesteuerte Medien, Politik als Betrugsmaschinerie: Die Rede ist von Verschwörungstheorien. Die dahinter stehenden Weltbilder mögen absurd wirken. Aber die Zahl ihrer Anhänger ist groß und die Gefahr real, wie der Stuttgarter Prozess gegen Mitglieder des Reichsbürgernetzwerks zeigt.

Am Montag (29. April) hat vor dem Oberlandesgericht Stuttgart der erste Prozess gegen mutmaßliche Mitglieder des Reichsbürgernetzwerks begonnen, das sich zum Ziel gesetzt haben soll, die demokratische Ordnung in Deutschland mit Gewalt zu stürzen.

Der Anklage zufolge folgten die Männer und Frauen einem „Konglomerat aus Verschwörungsmythen“. So sollen sie geglaubt haben, dass ein Geheimbund ausländischer Staaten ihnen ein Zeichen zum Losschlagen geben werde.

Reichsbürger und Selbstverwalter

Das Logo des „Königreich Deutschland“ prangt am Fenster eines Pförtnerhauses in Sachsen-Anhalt. Foto: dpa/Jan Woitas

Die Reichsbürger sind keine einheitliche Bewegung: Einige sehen sich als Staatsoberhäupter ihres eigenen kleinen Reiches mit eigenen Ausweisen und Nummernschildern. Diese nennt der Verfassungsschutz Selbstverwalter.

Das Bundesamt geht insgesamt von rund 23 000 Menschen aus, die der Szene angehören. Reichsbürger und Selbstverwalter folgen Verschwörungstheorien: Nach Ansicht des Verfassungsschutzes geben sie damit antisemitische Muster wieder, die auch bei Rechtsextremen eine wichtige Rolle spielen. Dazu gehören die Leugnung des Holocausts oder der „Deep State“-Mythos, wonach geheime Mächte das Weltgeschehen lenkten. Ein Überblick:

„Deep State“

„Deep state“ ist ein negativ konnotiertes politisches Schlagwort, das tatsächliche oder angebliche und illegale oder illegitime Machtstrukturen innerhalb eines Staates bezeichnet. Der Verschwörungsmythos wurde zunächst in den USA von sogenannten QAnon-Anhängern verbreitet. Demnach werden die USA von einer kriminellen Elite beherrscht.

Dem Bundesamt für Verfassungsschutz zufolge findet dieser Mythos auch im deutschsprachigen Raum Verbreitung. Die mutmaßlichen Verschwörer, die nun vor Gericht stehen, sollen jedenfalls daran geglaubt haben. Der Anklageschrift der Bundesanwaltschaft zufolge waren sie fest davon überzeugt, dass auch Deutschland derzeit von Angehörigen eines sogenannten Deep State regiert werde.

„Allianz“

Eine Abordnung von Reichsbürgern aus dem Königreich Bayern marschiert am 19. August 2023 auf dem Domplatz in Magdeburg ein. Foto: dpa/Heiko Rebsch

Eine Befreiung aus dieser Lage erhofften sich die Angeklagten den Ermittlern zufolge von einer sogenannten Allianz. Dabei handle es sich ihrer Überzeugung nach um einen technisch überlegenen Geheimbund von Regierungen, Geheimdiensten und Militärs verschiedener Staaten wie Russland und den USA.

Diesen Geheimbund gibt es nicht - die Gruppe soll aber so fest daran geglaubt haben, dass sie sogar einen Verbindungsoffizier für die „Allianz“ ernannt habe – Marco van H., der in Stuttgart vor Gericht steht.

„Tag X“

Laut Anklage propagierte die Gruppe eine Zusammenarbeit mit diesem nicht existierenden Geheimbund. Demnach war vorgesehen, dass die sogenannte Allianz ein Zeichen für den „Tag X“ geben sollte. Das sollte das Signal für das Eingreifen der Gruppe sein. Die Idee soll gewesen sein, dass die „Allianz“ die obersten staatlichen Institutionen angreifen solle. Danach habe die Gruppe die übrigen Institutionen und Amtsträger auf Landes-, Kreis- und kommunaler Ebene beseitigen wollen.

Als Datum wurde dem Generalbundesanwalt zufolge unter anderem der Tod der britischen Königin Elizabeth II. diskutiert. Sie starb allerdings bereits im September 2022, drei Monate vor der großen Razzia gegen das Netzwerk mit zahlreichen Festnahmen.

„Feindeslisten“

Für die Beseitigung der staatlichen Institutionen und Amtsträger soll die Gruppe bereits sogenannte Feindeslisten erstellt haben. Laut Anklage war den Mitgliedern bewusst, dass bei ihrer geplanten Machtübernahme Menschen sterben würden.

Neben den Plänen für „Tag X“ sei auch geplant worden, mit einer bewaffneten Gruppe in das Reichstagsgebäude in Berlin einzudringen, um dort Bundestagsabgeordnete festzunehmen und so das freiheitlich-demokratische System zu stürzen.

Ein Angeklagter wird am 29. April 2024 in Stuttgart-Stammheim beim Beginn eines Prozesses um Reichsbürger, die mutmaßlich einen Umsturz in Deutschland geplant haben sollen, in den Gerichtssaal geführt. Foto: dpa/Bernd Weißbrod

„Rat“

Den Ermittlern zufolge wollte die Gruppe nach dem Umsturz die politische Neugestaltung Deutschlands übernehmen. Zentrales Gremium sei der sogenannte Rat gewesen, der sich – ähnlich wie ein Regierungskabinett – aus verschiedenen Ressorts zusammengesetzt habe. Für die Justiz war demnach beispielsweise Birgit Malsack-Winkemann verantwortlich, eine frühere AfD-Bundestagsabgeordnete und Richterin, der in Frankfurt am Main der Prozess gemacht wird.

Der „Rat“ sollte laut Anklage als Übergangsregierung fungieren und mit den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs die neue staatliche Ordnung Deutschlands verhandeln. Als zentralen Ansprechpartner dafür hätten die mutmaßlichen Verschwörer aber nur Russland gesehen.

Anführer des „Rats“ war laut Bundesanwaltschaft Heinrich XIII. Prinz Reuß. Nur er sei in den Plänen der Gruppe als provisorisches Staatsoberhaupt in Betracht gekommen, er allein habe einen Friedensvertrag aushandeln sollen.

Bei einer Razzia gegen Reichsbürger führen vermummte Polizisten, nach der Durchsuchung eines Hauses, Heinrich XIII Prinz Reuß (2. v. re.) am 2. Dezember 2022 in Frankfurt am Main zu einem Polizeifahrzeug. Foto: dpa/Boris Roessler

„Militärischer Arm“

Dieser Teil der Gruppe war der Anklage zufolge an den „Rat“ angegliedert und sollte den Umsturz mit Waffengewalt durchsetzen. Dazu habe deutschlandweit ein System von 286 sogenannten Heimatschutzkompanien, militärisch organisierten Verbänden, aufgebaut werden sollen.

Die Gruppe soll laut Bundesanwaltschaft Zugriff auf ein „massives Waffenarsenal“ gehabt haben, das aus rund 380 Schusswaffen, fast 350 Hieb- und Stichwaffen und fast 500 weiteren Waffenteilen bestanden habe.

An der Spitze des „militärischen Arms“ soll der in Frankfurt angeklagte frühere Bundeswehroffizier Rüdiger von P. gestanden haben, den die Bundesanwaltschaft neben Reuß als Rädelsführer sieht. Weitere mutmaßliche Mitglieder des militärischen Arms stehen in Stuttgart vor Gericht. Bei Rekrutierungsveranstaltungen sollen sie versucht haben, aktive oder ehemalige Angehörige von Bundeswehr und Polizei anzuwerben.

Das Oberlandesgericht verhandelt gegen neun Angeklagte aus der mutmaßlichen Reichsbürger-Gruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß, der selbst aber erst später in Frankfurt vor Gericht kommt. Foto: dpa/Bernd Weißbrod

„Verschwiegenheitserklärung“

Nach außen habe sich die Gruppe abgeschottet, erklärte die Bundesanwaltschaft. Mitglieder und Interessenten hätten eine sogenannte Verschwiegenheitserklärung unterschreiben müssen. Erarbeitet worden sei diese von zwei ebenfalls in Stuttgart Angeklagten, Markus H. und Ralf S., auf Weisung von van H. Verstöße gegen die „Verschwiegenheitserklärung“ sollten laut Anklage als Hochverrat mit dem Tod bestraft werden.

Mehrere hundert Teilnehmer einer Demonstration ziehen am 20. Oktober 2023 mit Flaggen vom Königreich Preußen (schwarz-weiß-schwarz mit Adler) durch die Dresdner Innenstadt. Foto: dpa/Heiko Rebsch

Warum brauchen Menschen andere als Sündenböcke für Miseren?

Für eine Verschwörungstheorie braucht man immer ein passendes Opfer, das als Sündenbock herhalten muss. „Wenn sich dieser Frust, diese Unzufriedenheit verfestigen, dann werden Schuldige gesucht und man bastelt sich seine Welt und seine Wahrheiten zusammen“, erklärt der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider von der Universität Stuttgart-Hohenheim den aktuellen gesellschaftlichen Trend zu Verschwörungstheorien. „Und dieses Basteln war noch nie so einfach wie heute.“

Rechtspopulisten wie die Reichsbürger verwendeten immer wieder die gleichen Erzähl-Elemente. Es gebe bei ihnen einen einheitlichen „Volkswillen“, der von inneren und äußeren Mächten unterdrückt werde, betont der Kommunikationsexperte. Zu den inneren Mächten zähle diese Gruppe die politischen Eliten und die Massenmedien, zu den äußeren Mächten die Europäische Union, die Globalisierung und den Islam. „Oft werden auch Verschwörungserzählungen eingebaut.“

Warum tritt Verschwörungsdenken in Krisenzeiten gehäuft auf?

Gerade in Krisenzeiten wuchern Gerüchte, Vorurteile und Verschwörungsdenken wie ein Krebsgeschwür. „Verschwörungstheorien gedeihen immer dann besonders gut, wenn es Krisen, Konflikte und undurchschaubare Entwicklungen gibt“, erklärt der Politologe und Publizist Tobias Jaecker. Hinter den diversen Krisen würden Konspirationsanhänger das geheime Wirken von Personen oder Institutionen vermuten, die ihre eigenen egoistischen Ziele auf Kosten der Allgemeinheit verfolgen.

Dass es Verschwörungen in der Menschheitsgeschichte immer schon gegeben hat, ist unbestritten. Doch die Anhänger von Verschwörungstheorien wittern hinter jedem komplizierten und für sie unerklärlichen Phänomen und Ereignis finstere Mächte, die im Geheimen die Fäden ziehen. „Grundlage einer Verschwörungstheorie ist ein Verdacht gegen eine als fremd und böse empfundene Gruppe“, erläutert der Wissenschaftsautor Thomas Grüter dieses Phänomen.

Wieso verfangen bei vielen einfache Erklärungen für komplexe Probleme?

Ein weiteres kommt hinzu: Verschwörungstheorien haben den Vorteil, dass sie Dinge auf einfache und polarisierende Weise deuten. Erklärungen über komplexe Sachverhalte wie das globale Finanzwesen werden drastisch reduziert, so dass am Ende nur zwei Gruppen übrig bleiben: die eigene gute Fraktion und der böse, mächtige Gegner, auf den man sich fokussiert.

Wie funktionieren Verschwörungstheorien?

Verschwörungstheorien geben einfache Antworten auf schwierige Fragen. Im Weltbild von Verschwörungstheoretikern spielen Sündenböcke und dämonisierte Minderheiten eine zentrale Rolle. Die Gegner werden als machtvoll, unsichtbar, allgegenwärtig und böse empfunden. Dieses „Dämonen-Stereotyp“ findet sich nach Meinung Grüters bei Globalisierungsgegnern genauso wie bei evangelikalen Fundamentalisten oder islamistischen Fanatikern.

Das Rezept ist einfach: Es werden nur solche Fakten und Zahlen zugelassen, die das eigene Weltbild stützen. Alles andere wird ignoriert. Ereignisse werden so lange umgedeutet, bis sie ins Konzept passen. Mit der realen Welt hat dieses holzschnittartige Konstrukt nichts zu tun.

Was haben Frustration und fehlende politische Kontrolle damit zu tun?

Für den Soziologen Hans Jürgen Krysmanski (1935-2016) stand fest: „Verschwörungstheorien sind im Grunde ein Ausdruck der Frustration über mangelnden Zugang in der Politik.“ Sie würden immer dann entstehen, wenn die Demokratie versagt. „Und leider Gottes versagt die Demokratie ja ständig oder immer öfter.“ Mehr denn je haben viele Menschen das Gefühl, dass die Politik über ihre Köpfe hinweg Entscheidungen trifft, die ihr Leben negativ beeinflussen.

Vom diffusen Unbehagen bis zur Verschwörungstheorie ist es dabei oft nur ein kleiner Schritt. Für Thomas Grüter steht fest: „Aufklärung und ständiger Dialog sind das Beste, was man gegen Verschwörungsdenken tun kann.“