Ingenhovens Entwurf zum Stuttgarter Tiefbahnhof. Foto: ingenhoven architects

Ingenhovens Bahnhofs-Entwurf ist zum Sinnbild der Unverträglichkeit geworden - zu Unrecht.

Stuttgart - 13 Jahre später wissen auch Kollegen, die 1997 im Preisgericht für einen Durchgangsbahnhof saßen und für Christoph Ingenhovens Idee votierten, die Gleise nicht, wie ursprünglich geplant, oberirdisch laufen zu lassen, dass es so, wie von Ingenhoven gedacht, nicht geht. Nur - warum eigentlich nicht?

Viele in Stuttgart, so scheint es seit diesem Sommer, haben Alfred Döblins Großstadtroman "Berlin Alexanderplatz" von 1929 gelesen. "Ein Kerl", so heißt es bei Döblin trocken und mit Blick auf Äußerungen vor allem bildender Künstler jener Jahre durchaus zeitgerecht, "muss eine Meinung haben." Bezogen auf das Verkehrs- und Städtebauprojekt Stuttgart 21 haben viele eine Meinung. Einige haben auch mehrere Meinungen, und doch gilt: Wer gegen dieses politisch, planungsrechtlich und rechtlich zur Baustartreife gebrachte und vor allem in den Jahren 1994 bis 1997 in zahllosen öffentlichen Runden erörterte Vorhaben ist, hat eine Haltung.

Hat es sich Ingenhoven außen zu einfach gemacht?

Im Schatten der von Heiner Geißler gelenkten Schlichtungsgespräche zwischen Projektgegnern und Projektträgern hat sich eine spannende Verschiebung der Fachkritik an Christoph Ingenhovens 1997 vorgestelltem Entwurf für eine Umgestaltung des Stuttgarter Hauptbahnhofs ergeben. Nicht mehr der Erhalt der Gesamtgestalt des von Paul Bonatz entworfenen und 1928 eröffneten dritten Stuttgarter Bahnhofsbaus steht im Mittelpunkt der Kollegenkritik, sondern die Forderung an Christoph Ingenhoven, den Bahnhof nicht mehr nur "von innen zu denken", wie Arno Lederer, 1997 mit im Preisgericht, es etwa formuliert. Lederer betont mit seiner Aussage die "großartige Qualität des Innenraums", will aber darauf hinaus, dass es sich Christoph Ingenhoven oberirdisch zu einfach gemacht habe. Vier Meter hohe Lichtaugen auf einer zur Stadt hin um sechs Meter erhöhten Ebene (deren Anstieg allerdings auf die Länge hin nicht als "Wall" zu sehen ist) können nicht nur aus Lederers Sicht nicht die abschließende Lösung sein.

Ingenhoven nun aber zu empfehlen, die Deckenhöhe im Gleisbereich quasi zu halbieren und die Dachformung einem Deckel anzunähern, verkehrt nicht nur Christoph Ingenhovens Idee, sondern auch die Begründung von 1997, ihm bei einem tatsächlichen Bauauftrag die architektonische Verantwortung zu übergeben.

Ingenhoven konterkarierte ja gerade die Vorabskizze einer oberirdisch weit in den Schlossgarten hineinragenden Gleishalle und formulierte in der Skizzierung einer tageslichtdurchfluteten Halle in Halbtieflage erstens eine gestalterische Reflexion der Topografie Stuttgarts und zweitens eine konsequente Einbindung des zentralen Baukörpers des Bonatzbaus in die Aufgabe, Forum für die Erschließung der möglichen Weiterentwicklung der Innenstadt auf den frei werdenden Gleisflächen zu sein.

Der Bonatzbau als Tor zur Stadt

Architektur muss etwas wollen - und Christoph Ingenhovens Entwurf will etwas. Will die Dialoge zwischen Gestern, Heute und Morgen nicht verwischen, sondern kenntlich machen, will den zentralen Bonatzbaukörper mit seinem erst im Lauf seiner Entstehung nach Süden hin, bis in die Achse zur Königstraße verrückten Turm als Erschließungsraum weiterentwickeln.

Zentrales Motiv in Ingenhovens Figuration ist die einer geöffneten Muschel gleichenden Gitterschale über Glas. Will man deren Zahl reduzieren? Will man deren Höhe begrenzen? Darüber ist zu streiten. Zunächst aber wäre es an der Zeit, sich noch einmal an den Ausgangspunkt des Votums für Ingenhoven zu erinnern. Es war und ist ja gerade die Reduktion auf wenige Merkmale, die überzeugt.

Ein Ideenwettbewerb wurde versäumt

Es ist die Einsicht, dass der Bonatzbau in einer neuen Rolle als Tor zu einer sich weiterentwickelnden Stadt auch als solches gelten können muss, die dazu führt, die heutigen Bögen vor der Gleishalle auch künftig als Signal zum Schritt in eine andere Umgebung gelten zu lassen. Darf Christoph Ingenhoven hier vom Schritt in einen "Garten" sprechen, obgleich doch eher Schotterwege mit Baumreihen angedacht sind? Er muss es sogar - denn auch hier will seine Architektur etwas: eine ebenerdige Antwort auf die lichte Gleishalle. Nur indem man das Gelände hinter dem zentralen Bonatzbaukörper ebenerdig begehen kann, wird es überhaupt eine Notwendigkeit geben, die Gestaltung dieses Areals als gleichwertig wichtige Aufgabe zu sehen.

Die Qualität, sich zurücknehmen zu können und zu wollen, zeichnet Christoph Ingenhovens Planung aus. Hätte er aber nicht, wie nun wiederholt gefordert, in den vergangenen zehn Jahren überarbeiten, präzisieren müssen? Ein Überarbeiten war bis zur abschließenden Finanzierungsvereinbarung kaum zu erwarten, ein Präzisieren ist bei einem möglichen tatsächlichen Baubeginn unbedingt zu erwarten. Wesentliches aber haben Christoph Ingenhovens Planungen und seine knappen Ausführungen bereits bewirkt: In vielen Köpfen ist die Stadt, gerade in den vergangenen zehn Jahren, baulich auf ein nicht einmal ein Quadratkilometer zwischen Hauptbahnhof und Schlossplatz konzentriert.

Architektur muss etwas wollen - und so ist beim Votum für Christoph Ingenhoven nur eines versäumt worden: Unabhängig von einer Realisierung eines Durchgangsbahnhofs in Stuttgart einen Ideenwettbewerb auszuschreiben, der, ausgehend von fachübergreifend besetzten Foren, architektonische Antworten sucht.