Soll Wolfgang Koeppens Roman ins Regal zurück? Foto: dpa/Christoph Schmidt

Ministerpräsident Kretschmann kann die Diskussion um Wolfgang Koeppens Roman nicht beenden. Die Kritik lasse sich nicht einfach wegwischen, findet die SPD. Und die Aktivisten geben nicht auf.

Auch nach dem Machtwort von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) reißt die Kritik an der Auswahl von Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ als Pflichtlektüre für das nächstjährige Abitur nicht ab. „Man kann nicht über Rassismus aufklären, indem man Menschen rassistischen Stereotypen aussetzt“, sagte Jasmin Blunt bei einer Online-Veranstaltung der Beratungsstellen gegen Diskriminierung im Land. „Diese Pflichtlektüre muss weg!“ Die schwarze Lehrerin aus Ulm hatte die Diskussion angestoßen und ist die Initiatorin einer entsprechenden Petition, die sich gegen die geplante Verwendung des Buches im Abitur an den Beruflichen Gymnasien wendet und die mittlerweile mehr als 5500 Unterstützer zählt.

Bei der Online-Veranstaltung wurde deutlich, dass auch andere schwarze Lehrer erwägen, Blunts Beispiel zu folgen und eine Beurlaubung zu beantragen. Niemand wolle das Buch verbieten, „aber man muss es auch nicht unterrichten“, sagte Samrawit Araya von der Initiative Black History Baden-Württemberg. Sharon Dodua Otoo, Schriftstellerin und Trägerin des Ingeborg-Bachmann-Preises 2016, sagte, Kinder und Jugendliche müssten geschützt werden. „Es gibt bestimmt einen Kontext, in dem ‚Tauben im Gras’ gelesen werden kann, aber nicht als Pflichtlektüre in der Schule.“

Auf 300 Seiten taucht 100-mal das N-Wort auf

Der 1951 erschienene Roman wird wegen seiner drastischen Sprache ebenso geschätzt wie abgelehnt. Er beschäftigt sich unter anderem mit dem Rassismus gegenüber afroamerikanischen US-Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland. Auf knapp 300 Seiten taucht 100-mal das N-Wort auf. „Man kann Schülerinnen und Schüler nicht dieser sprachlichen Gewalt aussetzen“, sagte Blunt. Wenn von Diskriminierung Betroffene hier „Stopp“ sagten, „gebietet es doch die Menschlichkeit, dass man darauf auch hört“. Die Erziehungswissenschaftlerin Maisha Auma attestierte dem Ministerium und der Mehrheitsgesellschaft eine Empathie-Lücke.

Auch der Ulmer SPD-Landtagsabgeordnete Martin Rivoir hält ein Festhalten an dem Roman für falsch. Es sei ein Problem, dass das Kultusministerium und der Ministerpräsident das Thema einfach so wegwischten, sagte Rivoir. Er reichte eine Liste mit 25 Fragen beim Ministerium ein. Dabei interessiert ihn auch, „welche ‚People of Colour’ (PoC) in die Entscheidung, das Buch als Abiturthema zu bestimmen, überhaupt eingebunden“ gewesen seien. „Das ist doch das Entscheidende, dass hier niemand gefragt wurde.“

Der Antisemitismusbeauftragte Blume soll schlichten

Das Kultusministerium gab dazu bisher keine Auskunft, sondern erklärte lediglich, eine zehnköpfige Kommission mit Lehrerinnen und Lehrern aus allen Teilen Baden-Württemberg habe die Auswahl getroffen. Koeppens Roman war in der Vergangenheit auch schon in anderen Bundesländern Abiturthema und passt offenbar thematisch zu Katharina Hackers „Die Habenichtse“. Mit diesem Buch sollen die Schüler einen Werkvergleich vornehmen. „Die Sprache spielte bei der Auswahl vermutlich keine Rolle“, sagte Blunt.

Inzwischen ist der Antisemitismusbeauftragte der Landesregierung, Michael Blume (CDU), mit dem Fall befasst. Nach Informationen unserer Zeitung soll er zwischen Blunt und dem Kultusministerium vermitteln. Allerdings sind auch jüdische Organisationen auf das Thema aufmerksam geworden. In dem Roman würden antisemitische Klischees reproduziert, sagte Hanna Veiler, Vizepräsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands. Koeppen beschreibt das Unverständnis vieler Nachkriegsdeutscher über ehemalige jüdische KZ-Häftlinge, die aus ihrer Sicht die Vergangenheit nicht ruhen lassen wollten – auch dies mit den entsprechenden klischeehaften Zuweisungen.

Sind die Lehrkräfte gut vorbereitet – oder das eigentliche Problem?

Kretschmann verwies darauf, dass die Einführung der Lektüre umfassend begleitet worden sei. 60 Fortbildungen hätten stattgefunden, 500 Lehrer daran teilgenommen. „Ich bin der Meinung, dass jede gymnasiale Lehrkraft imstande ist, das ihren Schülern entsprechend zu vermitteln“, sagte der Ministerpräsident, der früher selbst als Lehrer tätig war. Veiler teilt diese Einschätzung nicht. „Das trifft sich nicht mit den Erfahrungsberichten jüdischer Schüler.“ Es seien oft die Lehrkräfte, die Antisemitismus und Rassismus nicht erkennen würden oder sogar selbst reproduzierten. Am Ende säßen dann die betroffenen Schüler alleine da und müssten die Problematik den anderen erklären. „Das halte ich für fatal.“