Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) will an der Pflichtlektüre festhalten. Foto: dpa/Christoph Schmidt

Kultusministerin Schopper will den Roman „Tauben im Gras“ als Pflichtlektüre fürs Abitur nicht zurückziehen. Aktivisten sind entsetzt, die AfD zollt Anerkennung.

Wer an einem Beruflichen Gymnasium das Leistungsfach Deutsch belegt hat, kommt um diesen Roman nicht herum: Von 2024 an soll Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“ Teil der Abiturprüfung in Baden-Württemberg sein. Doch um den 1951 erschienenen Roman ist ein Streit entfacht. Das Werk sei rassistisch, heißt es in einer Petition, die im Internet bereits 2400 Unterstützer gefunden hat.

Initiatorin ist die Ulmer Lehrerin Jasmin Blunt. Die 41-Jährige hat schon viele Jahrgänge durch das Abitur gebracht. Eigentlich müsste sie mit ihren Deutschschülern jetzt Koeppens Roman besprechen. Doch das wolle und könne sie sich nicht zumuten. Sie habe ihre Beurlaubung beantragt. Immer wieder tauchten in dem Buch rassistische Begriffe auf. Das „N-Wort“ falle inflationär, „fast auf jeder Seite, oft mehrfach“, sagte Blunt. Für betroffene Menschen – wie sie selbst – könne dies unerträglich werden. „Die Frage ist doch: möchte ich jemanden dieser sprachlichen Gewalt aussetzen?“

Reich-Ranicki lobte den Roman

In seinem Roman erzählt Koeppen die Geschichte eines Jungen in der Nachkriegszeit, dessen Mutter mit einem schwarzen GI liiert ist. Das Buch gehört zur so genannten Trümmerliteratur. Der verstorbene Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki sortierte es zu seinem Kanon der wichtigsten Werke deutscher Sprache.

Blunt geht es nicht um den literarischen Wert. Schon im Januar hatte sie sich mit einem Brief an Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) gewandt. Doch die Ministerin verteidigt den Roman. Bei Koeppen werde der Rassismus der Personen demaskiert. „Es geht darum, deutlich zu machen, wie Rassismus Gesellschaften prägt: damals in den 1950er Jahren, als der Roman entstanden ist, aber auch heute“, sagte Schopper jetzt der in Ulm erscheinenden „Südwest Presse“. Das zu behandeln, halte sie für sehr wichtig. Den Lehrern stelle man Fortbildungen und Materialien zur Verfügung, damit sie mit ihren Schülern das Werk richtig einordnen könnten.

„Ungeeignet für Schüler“

Einer der ersten, der gleichwohl die Petition unterschrieben hat, ist Bernd-Stefan Grewe, Leiter des Instituts für Geschichtsdidaktik an der Universität Tübingen. Für ihn, der zukünftige Lehrkräfte in seinem Fach unterrichtet, ist Wolfgang Koeppens Roman ungeeignet für den Unterricht und dürfte schon gar nicht als Pflichtlektüre geführt werden.

„Wir müssen uns überlegen, was das mit Schülerinnen und Schülern macht, die selbst von Rassismus betroffen sind. Sie werden dem ausgesetzt ohne sich entziehen zu können, weil das Buch für das Abi relevant ist“, sagte Grewe. Das N-Wort und die Charaktere im Buch, die teils „voller Klischees“ gezeichnet würden, könnten bei Menschen mit Rassismuserfahrungen heftige Reaktionen und eine Retraumatisierung auslösen.  Lehrkräfte seien nicht dafür ausgebildet, damit umzugehen.

Wird nur die weiße Perspektive bedient?

Er durchlaufe gerade selbst einen Lernprozess, sagte Grewe. Bei der Frage, wie rassismuskritischer Geschichtsunterricht in Zukunft aussehen könnte, wird er beispielsweise zukünftig eng mit Aktivisten aus dem Bereich BPOC zusammen. Die Abkürzung steht für Black, Indigenous and People of Colour. So möchte die    Community selbst bezeichnet werden.„Wir müssen uns mit der Frage beschäftigen wie Unterricht mit einer Schülerschaft aussehen soll, in der knapp 40 Prozent Wurzeln in anderen Ländern haben“, sagte Grewe. Er meine damit auch die Inhalte: „Können wir uns zukünftig weiterhin vor allem auf die deutsche Geschichte und deutsche Literatur konzentrieren oder müssen wir nicht viel mehr die anderer Nationen lehren?“

Und wenn laut vorgelesen wird?

Er will nicht falsch verstanden sein: Koeppens Buch kann durchaus auch von Schülern gelesen werden, aber eben nicht verpflichtend. „Ich würde daraus nur Auszüge mit Schülern lesen. Anhand dieser kann man dann auch über Rassismus sprechen.“

Auch Esra Oneli vom Verein „MeinIchgegenRassismus“ will nicht die Auseinandersetzung mit Rassismus in der Schule beenden. Dies müsse aber so geschehen, dass es gerade die Betroffenen nicht schmerze. Das tue es aber, wenn das „N-Wort im Unterricht laut vorgelesen oder zitiert“ werde.

Die AfD begrüßt die Standhaftigkeit der Ministerin

Der SPD-Fraktionschef Andreas Stoch forderte einen runden Tisch aller Beteiligten. „Auch wir sehen viele Passagen in dem Buch sehr kritisch.“ Lob erntete Schopper hingegen von der AfD. Die Kultusministerin sei gegenüber einer „Betroffenheitsaktivistin“standhaft geblieben, sagte der bildungspolitische Sprecher, Rainer Balzer.

Das Kultusministerium steht unter einem gewissen Druck. Ein Verzicht auf „Tauben im Gras“ wäre inzwischen schwierig, wie das Ministerium darlegt. Diejenigen Schüler, die das Werk schon im ersten Jahr ihrer Kursstufe besprochen hätten, seien dann im Nachteil. Ein Ersatz sei in der verbleibenden Zeit kaum noch unterzubringen. Ohne Ersatz seien allerdings Schüler früherer Jahrgänge benachteiligt, die dann mehr Literatur zu bewältigen gehabt hätten.

Wie das Buch ausgewählt wurde

Jasmin Blunt sieht hingegen „schwarze, afrikanische und afrodiasporische Menschen“ benachteiligt. Deren Recht auf diskriminierungsfreie Bildung werde nicht gewährleistet. „Als Schülerin hätte ich das nicht durchgestanden“, ist sich Blunt sicher. Das Kultusministerium solle endlich anerkennen, dass die (Schul-)Gesellschaft divers sei. Im Ministerium verweist man darauf, dass die Auswahl der Pflichtlektüren von einer zehnköpfigen Gruppe erfahrener Fachberater stamme. „Die Gruppe war paritätisch besetzt mit Kolleginnen und Kollegen aus ganz Baden-Württemberg.“ Von schwarzen Lehrkräften in der Auswahlkommission war keine Rede. Das ist auch für Grewe ein Manko. An entscheidenden Positionen im Bildungsbereich säßen immer noch weiße und privilegierte Menschen. Stimmen von Menschen mit anderer Hautfarbe oder Migrationsgeschichte würden zu wenig gehört.

Die schwarze Perspektive

Alternative
Die Frage, welche schwarze deutsche Autoren sich dafür eignen würden, eine Perspektive schwarzer Deutscher im historischen Kontext zu zeigen, die für die gesamte Schülerschaft einen Mehrwert bietet, ist auch für Jasmin Blunt und Esra Oneli spontan schwer zu beantworten. Sie empfehlen Jennifer Teeges Buch „Amon“.

Großvater
Teege ist die schwarze Enkelin des SS-Mannes Amon Göth, was Teege selbst erst mit 38 Jahren herausgefunden hat. Göth war der berüchtigte Kommandant des Konzentrationslagers Płaszów, vielen bekannt auch durch den Film „Schindlers Liste“. Die jüdischen Arbeiter, die Oskar Schindler rettete, bezog der Industrielle aus Göths KZ. 1946 wurde Göth, der auch an der brutalen Liquidierung des Krakauer Ghettos beteiligt war, wegen vielfachen Mordes durch ein polnisches Gericht zum Tode verurteilt und hingerichtet.