Trainer Tayfun Korkut (li.), Sportchef Michael Reschke: Enttäuschte Hoffnungen Foto: Baumann

Ganz gleich wie der neue Trainer beim VfB Stuttgart heißt: Er bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Himmel und Hölle. Die Erwartungen sind noch immer höher als die Möglichkeiten.

Stuttgart - Es ist ja nicht so, dass ihn niemand gewarnt hätte. Mario Gomez und Christian Gentner baten mehrfach um Gehör, Michael Reschke mahnte einige Male zur Umkehr auf dem Weg in die Sackgasse. Aber Tayfun Korkut hielt eisern fest am Glauben, dass ein Plan, der einmal funktionierte, auch ein zweites Mal gelingen könnte. Doch so schwer zu erklären war, dass die von ihm verordneten Abwehrkräfte vergangene Saison den VfB Stuttgart zur zweitbesten Mannschaft der Rückrunde machten, so schicksal- und rätselhaft entfalteten sie in dieser Spielzeit ihre zerstörende Wirkung.

Veränderte Bedingungen

Eine mögliche Ursache: Die Ausgangslage hatte sich grundlegend verändert. Die Erwartungen vieler Fans wuchsen nach Rang sieben in der Vorsaison ins Unermessliche. Der eine oder andere Profi ordnete seine Ambitionen nicht mehr nur dem Klassenverbleib unter, persönliche Ziele gewannen an Bedeutung. Neuzugänge verschärften den Kampf um die Stammplätze. Das alles verändert gruppendynamische Prozesse.

„Der VfB hat in Qualität investiert und Mentalität verloren“, kritisierte Ex-VfB-Profi Matthias Zimmermann nach seinem nicht ganz freiwilligen Wechsel zum Ligakonkurrenten und Aufsteiger Fortuna Düsseldorf. Ganz falsch lag er damit wohl nicht: Daniel Ginczek, Stimmungskanone und Torjäger, wird inzwischen schmerzlich vermisst. Der immer mal wieder verletzte Angreifer wechselte vor Saisonbeginn zum VfL Wolfsburg. Für ein Jahresgehalt von vier Millionen Euro, mehr als doppelt so viel wie beim VfB. „Das hätte unser Gehaltsgefüge gesprengt“, sagte der Präsident und Aufsichtsratschef der VfB-Fußball-AG, Wolfgang Dietrich. Die Misere an einem einzelnen Spieler festzumachen wird der Causa ohnehin nicht gerecht. „Es ist unfassbar“, sagte der Vereinschef nach der Trennung von Korkut, „wir haben immer wieder intensiv und vernünftig mit dem Trainer geredet. Es hat nicht gefruchtet.“

Schelte von Matthias Sammer

Es ist eben wie so häufig beim Verein für Bewegungsspiele 1893: Er bewegt sich einem Mobile gleich ziemlich irrational zwischen Himmel und Hölle. Und die Trainer verglühen wie Sternschnuppen am Himmel. Einer nach dem anderen. „Es ist pervers“, beklagt Ex-VfB-Coach Matthias Sammer, „das der Trainer immer der Depp ist.“

Jetzt ist der Fußballlehrer Tayfun Korkut ein Teil der VfB-Geschichte. Einer, der den Club im ersten Jahr nach dem Wiederaufstieg mit seiner pragmatischen Herangehensweise vor dem erneuten Niedergang bewahrte. Scheinbar immun gegen alle Anfeindungen wütender Kritiker: „Ich lass das nicht an mich ran.“ Und einer, der die Zeichen der Zeit vor seiner zweiten Saison beim VfB nicht zu deuten wusste.

Dabei war ihm das Terrain als früherer A-Jugend-Trainer beim VfB nicht fremd. „Die Menschen hier“, sagte er, „bruddeln gern. Aber das ist für mich umso mehr der Ansporn, meinen Job hier gut zu machen.“ Doch zuerst erreichte er mit seiner Strategie des ängstlichen Abwartens die Herzen der Fans nicht mehr, dann die Sinne seiner Spieler. Und so wie der gescheiterte Vorgänger Hannes Wolf die jungen Akteure bevorzugte, so setzte Korkut auf die erfahrenen. Mit dem rechten Verteidiger Andreas Beck als Inbegriff einer Halsstarrigkeit, die auch in Mannschaftskreisen nur noch Kopfschütteln bewirkte.

Korkuts falsche Signale

„Nach dem glücklichen Sieg gegen Werder Bremen haben wir alle auf eine Initialzündung gehofft“, bestätigte VfB-Sportchef Reschke am Tag der Entlassung mit einer Miene, die totales Unverständnis für seinen Coach verriet. Denn statt die bis dato sieglosen Hannoverschen mit einer mutigen Strategie in die Knie zu zwingen, entsandte Korkut acht Defensivarbeiter, die dem Gegner schon vor dem Anpfiff signalisierten: Vorwärts Freunde, sie ziehen sich zurück.

So war das aber alles nicht gedacht: Weil die schwäbische Fußballseele den VfB als Sinnbild wirtschaftlicher, kultureller und gesellschaftlicher Schaffenskraft in einer sehr erfolgreichen Region führt, schlägt der Seismograf der Befindlichkeiten in und um die Landeshauptstadt traditionell heftiger aus als anderswo. Nachgerade euphorisch begleitete die Festgemeinde den VfB im 125. Jahr seines Bestehens in die zweite Saison nach dem Wiederaufstieg. Und wahrscheinlich hätte schon ein kleiner Funke auf dem Rasen genügt, um die Flammen der Leidenschaft neuerlich zu entfachen. Aber Tayfun Korkut, professionell von allen Ecken und Kanten befreit, emotional auf Sparmodus gestellt, erledigte seinen Job mit der routinierten Attitüde eines Fließbandarbeiters. Mit den immer gleichen Handgriffen. Von Spiel zu Spiel.

„Wie man trainiert, so spielt man auch“, pflegte Felix Magath zu predigen, „wer im Training nicht lernt, seinen inneren Schweinhund zu überwinden, schafft das auch im Spiel nicht.“ Und Christoph Daum gab bei aufkeimenden Anfällen überbordender Harmonie während der Übungsstunden die Devise aus: „Männer, vor einem Schienbeinbruch pfeife ich heute nicht ab.“

Trainer ohne Esprit

Man muss die Dinge ja nicht gleich übertreiben, aber unter Tayfun Korkut blieb das Training meist so berechenbar wie eine Übungsstunde in Bauch, Beine, Po. „Ich habe einen großen Handwerkskasten“, sagte er im Gespräch mit unserer Zeitung, „und für jedes Problem das passende Werkzeug.“ Aber nach fest kommt ab. Und im Fußball sind die Improvisation, Leichtigkeit und Variation die Kunst der Großen, die Kneifzange ist das letzte Mittel in der Rat- und Hilflosigkeit.

Jetzt geht das Stuttgarter Gewächs Tayfun Korkut zwar unter dem Hinweis, dass er einen Ertrinkenden zwar noch ans Ufer ziehen kann, gebrandmarkt allerdings mit dem Makel, sich nicht darauf zu verstehen, den Geretteten dauerhaft wieder hübsch zu machen. Zweifel gab es diesbezüglich vereinsintern zwar schon nach Ende der vergangenen Saison, aber die Hoffnung auf rasche Besserung überwog. Noch in der Sommerpause verlängerte der VfB den Vertrag mit seinem leitenden Angestellten bis 2020 unter dem Hinweis, dass er im Erfolgsfall internationale Begehrlichkeiten wecken könnte. Was irgendwie ganz gut passt in das Bild vom „Fahrstuhlverein“ (Ex-Bayern-Coach Jupp Heynckes), der mal nach oben, mal nach unten vorbeisaust an den Stockwerken, auf deren Klingelschildern steht: nüchternes Kalkül, gesundes Augenmaß, Realitätssinn, perspektivisches Handeln.

Rund 3,5 Millionen Euro an Abfindungen

Fußball ist ein schwieriges Geschäft, aber die Fehleinschätzung schlägt nun mit schätzungsweise 3,5 Millionen Euro an Abfindungen für den Chef und seine beiden Assistenten Illija Aracic und Steven Cherundolo zu Buche. Was bohrende Fragen im Aufsichtsrat der VfB-Fußball-AG nach sich ziehen könnte und eine neuerliche Diskussion über das freie Spiel der Kräfte in den Chefetagen. Denn noch immer gönnt sich die VfB-AG keinen Vorstandsvorsitzenden, weshalb die Kritiker des Stuttgarter Modells nicht müde werden, auf die Machtkonzentration um den Präsidenten und Aufsichtsratschef Wolfgang Dietrich sowie seinen Sportvorstand Michael Reschke hinzuweisen.

Immerhin investierten die Bosse vor der Saison 35 Millionen Euro in neue Profis unter der festen Annahme, das spielerische Vermögen der Mannschaft zum Guten zu wenden. Hinter vorgehaltener Hand wähnten sich einige Häuptlinge im weiß-roten Wigwam schon wieder in der Europa oder gar Champions League. Jetzt fragen sich die Kritiker, ob sich Reschke und Korkut bei der Personalpolitik womöglich auf Chinesisch abgestimmt haben. Denn der Coach jonglierte mit den Neuzugängen, als müsse er heiße Kartoffeln von einer Backe in die andere schieben. Die Spielidee goss er unverdrossen in Beton – mit reichlich Eisen drunter. Und mit dem plötzlich pannenanfälligen Holger Badstuber als seiner bevorzugten Stütze in der Defensive. Reschke hatte dessen Rückkehr angeblich nur zähneknirschend mitgetragen. Kann sein, dass er sich inzwischen die Haare rauft.

Nun muss der Sportchef einen neuen Trainer suchen, der sich darauf versteht, einer verunsicherten Mannschaft neues Selbstvertrauen einzuflößen. „Wir werden bei der Suche kein Wettrennen veranstalten“, sagt Michael Reschke. Die Länderspielpause verschafft Zeit für Vorstellungsgespräche ohne große Hektik. Wie immer der neue Coach aber heißen mag: Er muss die Leidenschaft für einen Neuaufbau in sich tragen. So wie das eben ist beim VfB Stuttgart. Im Spannungsfeld zwischen Himmel und Hölle.