Ulrike Nasse-Meyfarth war bis vergangenen April 30 Jahre lang in der Nachwuchsarbeit bei Bayer 04 Leverkusen tätig. Foto: imago//Chai von der Laage

Als 16-Jährige gewann Ulrike Meyfarth 1972 völlig überraschend Gold im Hochsprung. Welche Erinnerungen hat sie an diesen Triumph, wie hat er ihr Leben verändert, und was wünscht sie sich 50 Jahre später für den olympischen Sport?

Anfang Juli stand Ulrike Nasse-Meyfarth auf dem Olympiaturm. Sie blickte beim Jubiläumsempfang des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB) in München auf das Olympiastadion. Knapp 50 Jahre nach ihrem Triumph am 4. September 1972 kamen die ganzen Erinnerungen noch einmal hoch. Was ihr als Erstes einfällt? „Die irre Atmosphäre bei diesem Heimspiel für mich“, berichtet das ehemalige Hochsprung-Ass am Telefon. „Ich hatte mit übersprungenen 1,88 Meter Bronze sicher. Als ich zum ersten Versuch über 1,90 Meter anlief, war es mucksmäuschenstill. Ich riss die Latte und plötzlich pfiff und buhte ein Großteil der Zuschauer. Das war schon seltsam.“

Der damalige Teenager aus Wesseling bei Köln ließ sich davon nicht beirren. Im zweiten Versuch klappte es. Um 19.05 Uhr war sie Olympiasiegerin, völlig überraschend. Sie legte noch einmal zwei Zentimeter drauf, übersprang auch diese, stellte den Weltrekord von Ilona Gusenbauer ein. Und dann? „Dann war nichts mehr, wie es vorher war, plötzlich war ich bekannt wie ein bunter Hund. Plötzlich war ich ein Star – und wollte gar keiner sein“, sagt die mit 16 Jahren und 122 Tagen bis heute jüngste Olympiasiegerin einer Leichtathletik-Einzeldisziplin.

Heitere Spiele waren vorbei

Ein (Fosbury-)„Flop“ hatte ihr Leben verändert. „Schluss jetzt – ich muss wieder in die Schule“, brach sie den folgenden Interviewmarathon nach ihrem Gold-Sprung irgendwann einmal ab. „Vier Wochen hatte ich vor den Spielen die Schule geschwänzt, musste alles nachholen, aber am Ende wurde ich versetzt“, erinnert sie sich. Was ihr sonst im Gedächtnis geblieben ist? Natürlich das Attentat auf die israelische Mannschaft einen Tag nach ihrem Triumph: „Auch das gehörte irgendwie zu meinem Wettkampf. Ich habe davon am nächsten Morgen in der Mensa erfahren, die heiteren Spiele waren vorbei, es kam Angst auf, dass noch mehr passieren könnte.“

Hämische Schlagzeilen

„The Show must go on“ hieß das Motto – trotz des schwarzen Schleiers, der fortan über den Spielen lag. Und Ulrike Nasse-Meyfarth will sich gar nicht ausmalen, wie sich der Hype um sie entwickelt hätte, hätte es die sozialen Medien damals schon gegeben. Doch auch so hatte der frühe Ruhm seinen Preis. Es folgten hämische Schlagzeilen nach sportlichen Tiefs wie der verpassten Endkampfqualifikation bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal, den medaillenlosen Europameisterschaften 1974 und 1978.

Sie begann noch einmal von vorne, nahm unter Trainer Gerd Osenberg einen neuen Anlauf: „Mir war der erste Olympiaerfolg in den Schoß gefallen, jetzt wollte ich mir bewusst alles erarbeiten.“ Das zweite Gold gelang 1984 in Los Angeles. Es war die Bestätigung von München zwölf Jahre danach. „Die Leute sprechen mich bis heute immer nur auf München an. Dabei bedeutet mir die zweite Goldmedaille mehr als die erste. Weil ich sie mir wirklich erarbeitet und verdient habe“, sagt sie im Rückblick.

Fitness und Golf als Hobbys

Und heute? Bis zum vergangenen April war die Mutter von zwei Töchtern (Alexandra und Antonia) über 30 Jahre lang Trainerin und Talentsichterin bei Bayer 04 Leverkusen. Jetzt bleibt sie mit Fitnesstraining aktiv und hat mit ihrem Mann das Golfspielen begonnen. Was sie sich wünscht? Persönlich natürlich Gesundheit und für die Allgemeinheit mal wieder Olympische Spiele in Deutschland. „Das würde dem Sport einen Ruck geben, denn Deutschland ist kein Sportland. Der Sport hat bei uns keine Lobby. Der Fußball dominiert alles, doch es sollten auch andere Sportarten gefragt sein“, sagt sie kritisch. Sie ist heilfroh, dass ein Gesicht wie das der Weitsprung-Queen Malaika Mihambo wenigstens ab und zu in den Medien auftaucht. Oder dass Gina Lückenkemper und Konstanze Klosterhalfen mit ihren jüngsten EM-Triumphen die Herzen der Fans eroberten. Überhaupt die European Championships in München – die Stimmung dort faszinierte auch Ulrike Nasse-Meyfarth: „Das erinnerte schon etwas an 1972 – vor allem wie sich das Flair des Sports auf die Stadt übertrug. Grandios fand ich das Publikum, das lautstark nicht nur die deutschen, sondern alle Sportler anfeuerte.“

Das Event macht Lust auf mehr. Lust auf Olympische Spiele. 2036 in Berlin, 100 Jahre nach den Spielen im nationalsozialistischen Deutschland – das wär’s für Nasse-Meyfarth: „Wir sollten den Mut haben, dieses Datum zu nutzen. Aber bitte ohne Referendum, ohne Bürgerbefragung, die Regierung muss dahinter stehen, das muss von ganz oben abgesegnet werden.“ Den Schub könne vor allem der Breitensport brauchen. „Dieser wird vom DOSB zu wenig beachtet, doch ohne Breitensport gibt’s keinen Spitzensport. Aus dem Breitensport entwickelt sich der Spitzensport, und die Pyramide in Deutschland ist sehr, sehr schmal.“ Grundsätzlich verkaufe sich der Sport unter Wert. „In der Pandemie zum Beispiel kam doch kein Ton vom Sport, dabei kann der Sport auf vielen Gebieten positiv wirksam sein, doch das nutzt man in Deutschland viel zu wenig, genauso wie die Vorbildfunktion ehemaliger Stars.“

„Sport verkauft sich unter Wert“

Ulrike Nasse-Meyfarth steht gewiss nicht im Verdacht, zu den Menschen zu gehören, die sich zu wichtig nehmen. Deshalb stimmt es umso bedenklicher, wenn gerade sie sagt: „Alte Sportler haben in anderen Ländern wie zum Beispiel Australien ein ganz anderes Standing. Bei uns wird man vergessen, nicht beachtet.“ Kritische Worte findet sie auch für den Gigantismus und die Überkommerzialisierung der Spiele: „Das Rad ist bereits überdreht. Gott sei Dank sind die nächsten Spiele in demokratischen, sympathischen Ländern.“ Bei aller Kritik am bis 2025 gewählten IOC-Chef Thomas Bach will sie sich nicht ausmalen, was passiert, wenn sein Nachfolger zum Beispiel aus Saudi-Arabien kommen würde. Die Spiele müssten mehr auf die Athleten ausgerichtet sein, nicht auf die Verbands- und Funktionärsinteressen: „Schöne Reisen und die Übernachtungen in netten Hotels dürfen nicht im Vordergrund stehen“, sagt das einstige Postergirl der deutschen Leichtathletik, das trotz des unsterblichen Ruhms nie die Bodenhaftung verloren hat.

Kritik am Gigantismus