Gina Lückenkemper ist die pure Freude ins Gesicht geschrieben. Foto: IMAGO/MIS/IMAGO

Die EM-Siege von Gina Lückenkemper und Niklas Kaul an einem Abend gehen die Geschichte ein – doch die Probleme bleiben.

Dieser traumhafte Sommerabend am Dienstag geht in die Geschichte der deutschen Leichtathletik ein. Im altehrwürdigen Münchner Olympiastadion brüllen 40 000 Zuschauer den deutschen Zehnkämpfer Niklas Kaul in der letzten Disziplin über 1500 Meter zu EM-Gold. Ihm seien bei dem Lärm auf der Zielgeraden fast die Ohren abgeflogen, sagt „die Maschine“ aus Mainz und verspricht den euphorischen Zuschauern, dass München von nun an immer einen Platz in seinem Herzen habe. Und wenig später drehen auf der Tribüne schon wieder alle durch, weil die 100-Meter-Läuferin Gina Lückenkemper in einem Fotofinish ebenso Gold gewinnt – und wenige Meter nach dem Zielstrich so stürzt, dass sie später eine Wunde im Krankenhaus mit acht Stichen nähen lassen muss.

Es gäbe noch so viel mehr zu erzählen von diesem großen Abend in München. Etwa von Kristin Pudenz, die mit der persönlichen Bestleitung von 67,87 Meter im Diskuswerfen Silber holt vor ihrer Teamkollegin Claudine Vita, die sich über Bronze freut.

Deutsche Leichtathletik, was willst du mehr? Noch mehr geht nicht.

Am nächsten Tag erscheinen die Helden dieser legendären Nacht zu einem Medientermin im Mannschaftshotel Leonardo Royal, ein gigantischer Viereinhalb-Sterne-Schuppen ist das. Sie sehen im Foyer der Ebene 2 alle noch ein bisschen müde aus, vor allem Niklas Kaul, der nach seinem unfassbaren Abend natürlich noch ein bisschen auf die Pauke gehauen hat. „Meine Party ging nach der Dopingkontrolle um 1.30 Uhr los. Wir waren am Olympiasee und sind dann nach 3 Uhr in Richtung Hotel aufgebrochen. Dann hat unser Physiotherapeut noch einen Schleichweg entdeckt, durch den wir fünf Minuten sparen sollten – wir waren dann aber erst kurz nach vier im Hotel“, berichtet Kaul und verdreht im Hinblick auf den großen Umweg die Augen.

Party fällt für Lückenkemper aus

Für Gina Lückenkemper fiel die Party dagegen sauber ins Wasser. „Das war gestern ein sehr, sehr spannender Abend. Ich hätte im Vorfeld nicht gedacht, dass er für mich im Krankenhaus endet, so etwas hatte ich noch nicht. Aber ich bin vorher auch noch nie in einem Krankenwagen gefahren und fand das eigentlich ganz aufregend“, sagt die 24 Jahre alte Berlinerin und nimmt die ausgefallene Party mit Humor. Durch die Wunde am linken Knie ist ihr Einsatz in der Staffel bei dieser EM fraglich.

Mal abgesehen von den unterschiedlichen Arten des Feierns – dieser goldene Dienstagabend hebt innerhalb des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DSV) die Stimmung. Allen, die glaubten, die olympische Paradesportart liege wegen der mageren Medaillenausbeute zuletzt bei den Weltmeisterschaften in Eugene am Boden, können die DLV-Funktionäre jetzt wieder mit einem gelassenen Lächeln begegnen.

In den USA bei der Weltmeisterschaft holte nur die sichere Medaillenbank Malaika Mihambo Weitsprung-Gold, und etwas Bronze gab es durch die tapfere 100-Meter-Staffel der Frauen noch hinzu. Viel zu wenig für das ambitionierte deutsche Team – der Ärger im eigenen Haus und in der Öffentlichkeit war programmiert.

München 2022 darf bislang als zarte Wende bezeichnet werden, denn man darf nie vergessen, dass bei einer WM die Konkurrenz zum Teil erheblich größer ist als bei Kontinentalmeisterschaften. „Wer diesen Abend hier erlebt hat, der weiß, dass die totgesagte deutsche Leichtathletik zumindest noch ein bisschen lebt“, sagt Kaul und lächelt verschmitzt. Inklusive der Teammedaillen im Marathon, die beim Aufzählen der Erfolge gerne vergessen werden, kommt die DLV-Mannschaft bei dieser EM schon auf acht Medaillen, viermal Gold ist dabei. Und Mihambo und andere Podestkandidaten, die müssen ja noch ran.

In allzu große Euphorie verfällt die DLV-Cheftrainerin Annett Stein mit Sicht auf die Zukunft nicht, denn die WM-Schmach liegt ja nicht lange zurück und ist trotz der EM-Erfolge präsent. „Das Ergebnis von Eugene steht, und wir werden uns auch nach der EM noch damit beschäftigen, weil eine WM natürlich nicht vergleichbar ist mit einer EM“, sagt Stein. Man wolle sich dieser Tage aber erst einmal in Europa positionieren, und das sei am Anfang dieses Events in München „auch schon sehr gut gelungen“. Und sie fügt hinzu: „Ich hoffe, es geht so weiter diese Woche.“

Sportförderung muss mehr tun

Gina Lückenkemper wird in der Angelegenheit konkreter und macht sich auch in ihrer Funktion als Kapitänin des deutschen EM-Teams für Grundlegendes stark. „In meinen Augen muss sich in der Sportförderung einiges tun, gerade im Nachwuchsbereich, um Talenten eine Perspektive zu bieten und sie beim Sport zu halten“, sagt sie. Außerdem müsse es künftig mehr international stark besetzte Trainingsgruppen in Deutschland geben. Doch über all dies will die sehr engagierte Sprinterin erst in ein paar Tagen weiterdiskutieren – zunächst will sie die EM zu Ende bringen. Und ein bisschen nachfeiern, das muss sie auch noch.