Manches fängt ganz romantisch an... Foto: dpa

„Die einzige Geschichte“ : Der britische Romancier Julian Barnes setzt die Trümmer einer großen Liebe zu einem meisterhaften Roman zusammen.

Stuttgart - In einer Gesellschaft, die ihre bevorzugten Wohnlagen mit Liguster- und Kirschlorbeerhecken umgibt, und sich in exklusiven Tennis-Clubs vor den Zudringlichkeiten des wilden Lebens abschottet, ist so etwas natürlich ein Hammer: wenn ein 19-Jähriger eine Beziehung mit einer doppelt so alten Frau beginnt, keine nette blonde Christine wählt oder eine quirlige schwarzlockige Virginia, sondern eine Mutter zweier erwachsener Töchter.

Dann könnte daraus nur zu leicht etwas erwachsen, was der Roman-Definition entspricht, die der englische Gelehrte Samuel Johnson 1755 in einem Lexikonartikel formuliert: „Eine kleine Geschichte, zumeist über die Liebe“. Etwa 200 Jahre später spielt der neue Roman von Julian Barnes, der sich als Motto Johnsons Bestimmung gewählt hat, allerdings nur, um sie schmerzhaft zu überschreiten: keine kleine, sondern „Die einzige Geschichte“, wie der Titel lautet. Und sie beginnt mit der alles entscheidenden Frage: „Würden Sie lieber mehr lieben und dafür mehr leiden oder weniger lieben und weniger leiden?“ Im letzteren Fall wartet ein gemachtes Nest hinter Ligusterhecken. Obsiegen aber Liebe und Leiden, wird das Geschehen zum Fall der Erzählkunst des englischen Romanciers, der mit eleganter Präzision in seinem Booker-Preis-geehrten Bestseller „Vom Ende einer Geschichte“ schon einmal Schuld und Leben mit den Schleifen der Erinnerung verknüpft hat.

Außer Kontrolle

Als ihren Fahrer stellt Susan ihren jugendlichen Liebhaber der Freundin vor. Irgendwann sitzen die ungleichen Liebenden einmal in einem Wagen, der außer Kontrolle dahinrast – ein Leitbild der Leidenschaften, die diese Geschichte antreiben. Die Fahrt führt aus den sicheren Zonen saturierter Langeweile ins Ungewisse. Marko Paul nennt Susan den „Fast-schon-Mann“ an ihrer Seite, wie Marco Polo, den es über die Grenzen der bekannten Welt hinausgetrieben hat.

Zu den Grenzen die hier überschritten werden, gehören aber auch die eines konventionell erzählten Unbedingtheitsfurors. Immer wieder biegt der Erzähler aus der geradlinig entwickelten Amour fou ab in Reflexionen, sodass zu den Wegmarken der Lektüre nicht nur die vorüberfliegenden Streiflichter einer bedrängenden sozialen und historischen Realität gehören, sondern auch Sentenzen von intellektueller Klarheit: „Seltsam, dass man als junger Mensch nicht der Zukunft verpflichtet ist; aber als alter Mensch ist man der Vergangenheit verpflichtet. Dem einzigen, was man nicht ändern kann.“

Das Unveränderbare, das die Liebe hinterlassen hat, zu ordnen, ist das Geschäft des Romans. Und der Erzähler versteht es dabei immer wieder, den Leser durch die direkte Anrede in seine Geschichte hineinzuziehen: „Sie denken womöglich: Französische Romane, eine ältere Frau, die den jüngeren Mann in ‚die Kunst der Liebe‘ einführt, ooh là là. Aber unsere Beziehung war keine Spur französisch und wir auch nicht.“

Die Kunst der Liebe, die das Paar pflegt, ist eher britischer, um nicht zu sagen puritanischer Provenienz. Licht aus. Und im dunklen Raum der Geschichte stehen Begriffe wie „sündiges Weib“ und „Ehebrecherin“. Ihre Leidenschaft über die erotischen und gesellschaftlichen Turbulenzen des Altersunterschieds hinwegzuheben, hat seinen Preis. Susan entrichtet ihn äußerlich mit ihren Vorderzähnen, die ihr der rasende und brutale Ehemann ausschlägt. Innerlich mit einem Abgleiten in den Rausch und Abwärtstaumel der Trunksucht. Während der junge Mann als Jurist sich zusehends in der gesellschaftlichen Sphäre verankert, verliert seine Geliebte den Boden unter den Füßen.

Hölle des Alkoholismus

Kein erschütterndes Detail des Verfalls wird ausgespart. Paul sieht sich trostlosen Exzessen konfrontiert, Psychiatrie, Demenz und erlebt, wie sich die Liebe seines Lebens in einem gnadenlosen chemischen Prozess in Mitleid und Zorn aufzulösen beginnt. Aus den privilegierten Höhen der Londoner Upperclass führt der Weg hinab in die Hölle des Alkoholismus.

Wie Orpheus ringt Paul vergeblich darum, seine Eurydike aus dieser Unterwelt zu befreien – und verstrickt sich dabei selbst immer tiefer in ein hässliches Gespinst aus Schuld und Selbstgerechtigkeit. Die „kleine Geschichte, zumeist über die Liebe“, die der 73-jährige Barnes in diesem reifen Alterswerk erzählt, rüttelt an den Pforten des tragischen Liebesmythos par excellence. Anders als in der antiken Fassung aber ist es gerade der Blick zurück, der die verlorene Liebe rettet. Erinnerung ist ein zentrales Motiv im Werk von Julian Barnes. Wo alles zerfällt, bleibt nur, daran zu erinnern, dass es sich bei den noch so kläglichen Resten um die Bestandteile der einzigen Geschichte handelt, aus denen ein Leben besteht. In Zwiesprache mit dem Leser setzt der Erzähler sie zu einem großen Roman zusammen. Je tiefer sich darin die schmerzhaften Risse und Bruchstellen abzeichnen, desto klarer schimmert die Flamme einer großen Passion hindurch.

Julian Barnes: Die einzige Geschichte. Roman. Aus dem Englischen von Gertraude Krüger. Kiepenheuer & Witsch. 303 Seiten. 16,99 Euro.