Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zeigt sein Bedauern für die Gewerkschaften, sieht sich aber machtlos in diesem Fall. Foto: dpa/Michael Kappeler

Die Gewerkschaften empören sich über den Mehrheitsbeschluss der Mindestlohnkommission, die die Lohnuntergrenze bis 2025 nur um 82 Cent anheben will – das Vorgehen der Arbeitgeber sei ein „Skandal“.

Eher stille Genugtuung aufseiten der Arbeitgeber – helles Entsetzen bei den Gewerkschaften. Erstmals hat sich die von der Bundesregierung unabhängige Mindestlohnkommission nicht auf einen gemeinsamen Vorschlag verständigen können. Der Mehrheitsbeschluss polarisiert daher mehr als jeder andere zuvor. Ein Überblick.

Was hat die Kommission beschlossen? Das siebenköpfige Gremium hat am Montag gegen die Stimmen der Arbeitnehmerseite einen Vermittlungsvorschlag der Vorsitzenden Christiane Schönefeld beschlossen. Demnach soll der gesetzliche Mindestlohn zum 1. Januar 2024 von derzeit 12,00 auf 12,41 Euro und zum Januar 2025 auf 12,82 Euro brutto pro Stunde angehoben werden.

Bei der Festsetzung der Mindestlohnhöhe orientiere man sich „nachlaufend an der Tarifentwicklung“, heißt es zur Begründung. „Nach Überzeugung der Kommission ist die Tarifentwicklung als Ausgangspunkt einer Gesamtabwägung sinnvoll und wichtig, weil die Sozialpartner im Rahmen der abgeschlossenen Tarifverträge auch die Belange der Arbeitnehmer, die Wettbewerbsbedingungen sowie Beschäftigungsaspekte berücksichtigen.“

Somit haben dem Vermittlungsvorschlag sowohl die Vorsitzende als auch die Arbeitgeber zugestimmt. Er orientiert sich an der tarifpolitischen Entwicklung seit der letzten Entscheidung der Mindestlohnkommission – also an den 10,45 Euro, die zum 1. Juli 2022 eingeführt wurden. Doch das war umstritten, denn die Gewerkschaften hätten lieber die 12,00 Euro als Ausgangspunkt genommen, die außerplanmäßig zum 1. Oktober 2022 umgesetzt wurden, konnten sich damit aber nicht durchsetzen. Die Arbeitgeber hatten zunächst gefordert, die Tarifentwicklung seit Oktober vorigen Jahres zum Maßstab zu machen – seither sind die Tarifverdienste um rund zwei Prozent gestiegen. Daraufhin entwickelte Schönefeld den Alternativvorschlag, der ebenso keinen Konsens fand.

Wie argumentieren die Arbeitgeber? Die Arbeitgebervereinigung BDA verweist auf das schwache Wirtschaftswachstum – insofern sei der Beschluss auch das Ergebnis einer gemeinsamen staats- und wirtschaftspolitischen Verantwortung, so BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter. Der gesetzliche Auftrag der Mindestlohnkommission sei aber wohl abgewogen und kein „Reparaturbetrieb für gesellschaftspolitische oder inflationspolitische Entwicklungen“.

Was halten die Gewerkschaften dagegen? Um den vom Gesetz geforderten Mindestschutz und einen Ausgleich der Inflation für die untersten Einkommensbezieher zu gewährleisten, hätte der Mindestlohn zumindest auf 13,50 Euro steigen müssen, argumentieren die Gewerkschaften. „Die Arbeitgeber und die Vorsitzende der Kommission haben sich dem verweigert.“

Der Landesbezirksleiter Martin Gross nennt die Entscheidung einen „Schlag ins Gesicht aller hart arbeitenden Menschen am untersten Einkommensrand“. Von derart niedrigen Löhnen könne niemand im teuren Baden-Württemberg leben. „Dass die Arbeitgeber in der Kommission die Inflationskrise komplett negieren, ist einfach nur zynisch“, grollt er. „Von 2025 verstoßen wir damit sogar gegen dann geltendes Recht – ein Armutszeugnis.“ Gemeint ist die EU-Mindestlohnrichtlinie, die bis Ende 2024 in nationales Recht umgesetzt werden müsse. Demnach müssen die Mindestlöhne in der EU mindestens 60 Prozent des Medianlohns von Vollzeitbeschäftigten erreichen, was mindestens 14 Euro entspreche.

Guido Zeitler, Chef der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), spricht von einer „fatalen Entscheidung, die völlig an der Lebensrealität von Millionen Menschen vorbeigeht“. Gerade den Kräften, die zum Mindestlohn arbeiteten, „brennt auf Grund der Inflation das Portemonnaie“. Es sei eine Schande, dass das Arbeitgeberlager „gnadenlos eine eigene Agenda durchgedrückt hat“. Damit trüge es zur Spaltung der Gesellschaft bei. Dass die Arbeitgeber die vom Bundestag beschlossene Erhöhung auf 12 Euro in ihren Berechnungen komplett ignoriert hätten, sei ein „echter Skandal“.

Was macht der Bundesarbeitsminister? Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sagte, er wisse, „dass sich die Arbeitnehmer und Gewerkschaften durchaus einen höheren Mindestlohn gewünscht hätten“. Nach dem Mindestlohngesetz könne die Bundesregierung aber nur den Vorschlag der Kommission umsetzen oder gar nichts tun. Die Alternative wäre keine Erhöhung des Mindestlohns zum 1. Januar, „was angesichts der Inflationsentwicklung nicht verantwortbar ist“.

Wie urteilt die Wirtschaftswissenschaft? Achim Wambach, Präsident des Mannheimer Forschungszentrums ZEW, sagte unserer Zeitung: „Die Politisierung des Mindestlohns nimmt weiter zu, nachdem im vorigen Jahr die Bundesregierung den Mindestlohn per Gesetz erhöht hatte – dieser Prozess der Politisierung sollte gestoppt werden.“ Es wäre sehr problematisch, wenn die Erfordernisse des Arbeitsmarktgleichgewichts in den Hintergrund gerieten. „Es ist daher gut, dass der Arbeitsminister angekündigt hat, den Beschluss der Kommission umzusetzen.“

Millionen profitieren vom höheren Mindestlohn

Kommission
Der von der Bundesregierung unabhängigen Mindestlohnkommission gehören neben der Vorsitzenden Christiane Schönefeld je drei Vertreter der Arbeitgeber und der Gewerkschaften plus je ein beratender Wissenschaftler an.

Millionenprogramm
Laut dem Statistischen Bundesamt waren 5,8 Millionen Jobs von der Erhöhung zum 1. Oktober 2022 betroffen. Somit lagen 14,8 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse zuvor unterhalb des Stundenlohns von 12 Euro.

Minijobs
 Die wissenschaftlichen Studien kommen für die Mindestlohneinführung und dessen Erhöhungen zum Ergebnis, dass es bislang allenfalls bei den Minijobs negative Auswirkungen des Mindestlohns auf die Beschäftigung gab. ms