Foto:  

Nicht nur Kunstmuseen sollen sich ständig „öffnen“ – Fehlt uns die Fähigkeit zur staunenden Begegnung mit dem Original?, fragt „Stuttgarter Nachrichten“-Autor Nikolai B. Forstbauer

Stuttgart - 1888 malt Vincent van Gogh das Porträt des Postangestellten „Joseph Roulin“. Das linke Ohr des in einen schweren blauen Mantel gehüllten Postangestellten markiert die zentrale Bildachse, die Ansicht ist in die linke Bildhälfte gerückt, während sich rechts ein gelb-grüner Farbraum entwickelt, dem die leicht hineinragende blaue Post-Mütze zusätzliche Tiefe gibt. Ein unspektakuläres Bild eigentlich, aber doch eines, das fesselt, auf eigenwillige Weise radikal Kunst ist.

Kunst Museum Winterthur: Ort der Konzentration

Nicht anders ist es mit Claude Monets „Nymphéas blancs et jaunes“ von 1915 oder auch Ferdinand Hodlers „Blick in die Unendlichkeit“ aus dem gleichen Jahr. Zu sehen sind diese Werke an einem Ort, der inmitten der Stürme um die Frage, wie ein Kunstmuseum aktuell und vor allem morgen auszusehen hat, wie dort welche Kunst auf welchen Vermittlungswegen präsentiert wird, ein wenig so wirkt, als sei er schlicht vergessen worden: das Kunst-Museum Winterthur/Beim Stadthaus.

Geschichte wird spürbar

Zu dunkel und fast bedrängend in seinen Zitaten klassischer Baukörper das Foyer, Saalfolgen, die sich nie öffnen, Wände, die allerlei Spuren zeigen. Über allem liegt der Geruch von Stoffbahnen, Holz und Teppich.

Karin Sanders „Mailed Paintings“ weisen den Weg

Was für Bilder aber! Werke wie Piet Mondrians „Composition A“ von 1932 und René Magrittes „Le monde perdu“ von 1928. Neben dem Mondrian eine weiße Leinwand mit Gebrauchsspuren. Unauffällig auffällig. Verbeugung wie aber auch souveräner Gegenentwurf. Ein Werk aus der „Mailed Paintings“-Reihe der 1957 geborenen Konzeptkünstlerin Karin Sander. Eine weiß bearbeitete Leinwand – auf Reisen geschickt, von Ausstellung zu Ausstellung, von Galerie zu Galerie, von einem Ort der Kunst zum anderen. Karin Sander gilt die aktuelle Sonderausstellung im Kunstmuseum Winterthur/Beim Stadthaus. Doch vor dem Betreten der gänzlich eigenen Welt von Karin Sander im hallenartigen Erweiterungsbau durchquert man die Sammlungsräume.

Fragen nach Hierarchien

Sander, jüngst Gast der Gesprächsreihe „Über Kunst“ unserer Zeitung in der Staatsgalerie Stuttgart, markiert den Weg – so leise wie präzise. Sander greift aus, indem sie eingreift – und antwortet dem durch die Schweizer Moderne geprägten Kunst-Kurs zu Caspar David Friedrichs „Kreidefelsen auf Rügen“ (1818) auch im dem Stadthaus gegenüberliegenden Kunstmuseum Winterthur/Reinhart am Stadtgarten mit sanftem Humor. Auch hier zeigt sich die Präsentation spektakulär unspektakulär, stellt die gereihte Kunst aber zugleich stille und ernsthafte Fragen nach der Qualität und Bedeutung von Hierarchien.

Was bringt die „Aktivierung“ der Sammlung wirklich?

Ertragen wir aber die bloße Selbstverständlichkeit des Originals überhaupt noch? Die Frage darf man stellen – und ist damit sofort im Kernbereich des Dilemmas aller Museen. Vielleicht schätzt man dieses oder jenes Haus für seine Sammlung oder auch nur einen bestimmten Aspekt daraus, den Anreiz zum Besuch aber schaffen die viel beschworenen „Aktivierungen“ der Sammlung und mehr noch Sonderausstellungen.

Vorbild Galeries de Paléontologie et d’Anatomie comparée in Paris

Nicht immer aber muss dies zum Vergessen traditionsreicher Orte führen. So zählen etwa die vor wenigen Jahren noch in den Schatten geratenen Galeries de Paléontologie et d’Anatomie comparée in Paris inzwischen wieder zu den Sehnsuchtsorten.

Grundsatzfrage nach dem Ort der Kunst

Nicht aber nur der Paris-Touristen, sondern auch und gerade von Künstlerinnen und Künstlern. Die beiden Geschosse voller Tierskelette und ganzer Batterien veränderter Embryonen sind als Rauminstallation weithin einzigartig. Ein eigenwertiges Kunstwerk, das die digital befeuerte Gegenwart gerade von Naturkundemuseen, aber auch die Diskussionen über Kunstmuseen als Ereignisbühnen schlicht alt aussehen lässt. Orte wie die Galeries de Paléontologie et d’Anatomie comparée oder das Kunst-Museum Winterthur mit seinen Kernbauten Beim Stadthaus und Reinhart am Stadtgarten stellen so die Frage nach der Gestalt von Orten der Kunst, von Orten für die Kunst, noch einmal neu. Auch und gerade im Blick auf die Digitalisierung.

Digital-Debatte zu einseitig?

Das Stichwort weckt Hoffnungen – vor allem in der Politik. Könnte nicht die Digitalisierung helfen, mehr und jüngere Menschen in die Museen zu locken und so das ewige Problem der Legitimation hoher öffentlicher Zuschüsse zu lösen?

Frankfurt verzichtet auf digitales Bilderpuzzle

Eher doch deutet sich ein Weg an, den Philipp Demandt, Direktor der Kunsthalle Schirn sowie des Städel-Kunstmuseums und der Skulpturensammlung Liebighaus in Frankfurt wählt: Auf schnellstem multimedialem Weg sollen sich Interessierte informieren können – einfach, spielerisch und im besten Sinn verführend. Dann aber, in den jeweiligen Häusern selbst, ist Schluss. Keine digitalen Suchspiele, kein Bilderpuzzle.

In Köln setzt Kolumba-Direktor Kraus Signale der Konzentration

Weiter zuspitzen wollte und konnte die Frage, wie lange wir eigentlich brauchen, um Originale für sich und in ihren Zusammenhänge erschließenden Dialogen in Gänze wahrzunehmen, Stefan Kraus. Der Direktor des Kolumba–Kunstmuseums des Erzbistums Köln verlängerte die Präsentation der 2017 begonnenen Schau „Pas de deux“ um ein weiteres Jahr. Man brauche die Zeit, argumentiert Kraus, die Kunstgegenstände bräuchten die Zeit. Die Rede ist von Würde und von Bedeutung.

Vertrauen in das Original notwendig

Ist aber nicht Peter Zumthors Kolumba-Bau selbst schon eine starke Skulptur, ein Würdestempel? Und welche Bedeutung hat dann die Position von Stefan Kraus noch? Auch darüber wird debattiert. Unstrittig aber ist der Besuch vom Kolumba-Museum eine tiefe Erfahrung. Kolumba zeigt, welche Kraft das Vertrauen in die Kunst, in das Original an sich, entfalten kann.

Kunst eröffnet Dialoge

Ebendieses Vertrauen prägt auch das Kunstmuseum Winterthur. Die Reihungen von Bildern im klassischen Privatsammler-Format erschließen Bildwelten, Räume, Gedanken und Zusammenhänge in wunderbarer Selbstverständlichkeit. Dies erst begründet die Interventionen der Künstlerin Karin Sander in den Sammlungsräumen. Sie sind nicht Ausrufezeichen der eigenen Position, sondern Ausdruck des Wissens, dass Kunst zuvorderst Dialoge eröffnet.