Verfassungsschützer Herbert Müller erklärt, warum die Koran-Verschenkaktion „Lies!“ gefährlich ist - dahinter stecken wohl salafistische Gruppierungen, die weniger über den Islam aufklären wollen, sondern einen Gottesstaat der Demokratie vorziehen.
Herr Müller, was ist „Lies!“?
Die „Lies!“-Aktion ist aus Sicht des Verfassungsschutzes eine Werbeaktion bestimmter salafistischer Gruppierungen. Sie geht aus von dem über die deutschen Grenzen hinaus sattsam bekannten Prediger Ibrahim Abou Nagie aus Köln. Bei der Aktion sollen 25 Millionen Übersetzungen des Korans verteilt werden, damit die deutschen Bürger sich oberflächlich selbst ein Bild des Korans machen können.
Was ist denn daran so problematisch, den Koran geschenkt zu bekommen, dass dies den Verfassungsschutz auf den Plan ruft?
Es ist zunächst überhaupt kein Problem, wenn man dieses Buch mit einer 1400-jährigen Tradition verteilt. Ein Problem wird es dann, wenn wir uns anschauen, wer dieses Buch verteilt und welchen Zweck er damit verfolgt. Und da fällt auf, dass die „Lies!“-Aktivisten zugleich Anhänger des politischen Salafismus sind, die gemeinhin die Rigidesten und Reaktionärsten im politischen Islam sind. Sie wollen nicht mehr und nicht weniger als alle irdische Ordnung durch ihre vermeintlich gottgegebene zu ersetzen, also Demokratie gegen Gottesstaat austauschen.
Zusammen mit Kollegen des Schweizer Radios und Fernsehens haben wir einen Fall recherchiert, bei dem eine junge Tübingerin an einem „Lies!“-Stand in Stuttgart zum Islam konvertierte. Über eine Heiratsvermittlerin wurde ihr ein Mann zugeführt, der die „Lies!“-Aktion in der Schweiz mit ins Leben rief. Heute kämpft er als Dschihadist in Syrien auf der Seite der Terrororganisation El Kaida.
Ohne Zweifel ist zu sagen, dass diese „Lies!“-Stände eine Art Kontaktbörse darstellen. Über die Verbindungen und Netzwerke, die an den Ständen vermittelt werden, kommen Menschen auch mit solchen in Kontakt, die in Syrien aktiv sind. Es gibt zahlreiche Fälle, nach denen sich junge Menschen dann in Syrien eingebracht haben. Sicher ist, dass über „Lies!“ sich niemand dazu bewogen fühlt, sich der säkularen Opposition gegen Baschar al-Assad anzuschließen. Nach unserer Erfahrung schließen sich solche Menschen eher dem El-Kaida-Ableger Jabhat al-Nusra oder sogar dem Islamischen Staat an.
Also handelt es sich dabei um einen Schritt in den Terrorismus?
Das ist mir zu generell. Wir können nicht jedem Syrien-Reisenden beweisen, dass er sich einer Terrorgruppe angeschlossen und an Kampfhandlungen teilgenommen hat. Und dies ist zunächst einmal das, was strafrechtlich von Interesse ist.
„Lies!“ ist also ein Durchlauferhitzer?
Da wählen Sie ein plastisches Bild, das in Teilen sicherlich zutrifft. Es ist eine Möglichkeit, die Problematik des gesamten Phänomens bildlich und zugespitzt treffend darzustellen.
Alleine in Baden-Württemberg soll es im vergangenen Jahr 180 solcher Aktionen gegeben haben.
Wir haben „Lies!“-Aktionen in allen großen Städten in Baden-Württemberg. Oftmals werden die gar nicht mehr bei den Behörden angemeldet. In Stuttgart beobachten wir fast jeden Samstag, wie die jungen Männer mit ihren Bannern und Büchern auf die Menschen zugehen. Deshalb spreche ich lieber von weit über 100.
Es gibt Politiker, die fordern, gesellschaftlich mit Protestaktionen gegen solche Verteilaktionen mobilzumachen.
Gut, wenn es darum geht, ein Zeichen zu setzen, dann mag das überdenkenswert sein. Mir ist das aber zu wenig: Mir wäre es wichtiger, wenn man die Repräsentanten dieser „Lies!“-Aktion genauer unter die Lupe nimmt. Und das andere wäre eine nachhaltige Auseinandersetzung, in die auch islamische Verbände einbezogen gehören. Sie sollen sich gegen den politischen Islam und den Salafismus zu positionieren. Da darf es nicht bei einem Bekenntnis gegen Gewalt und Demokratiefeindlichkeit bleiben, da müssen nachhaltige Taten folgen. Das fehlt mir.