Der Bundesgerichtshof hat enorme Unsicherheit bei größeren Unternehmen und freigestellten Arbeitnehmervertretern ausgelöst. Vor vielen Arbeitsgerichten sind Klagen anhängig. Bundesarbeitsminister Heil ist gefordert.
Eine Welle der Empörung rollt durch die Arbeitswelt. In vielen größeren Unternehmen wird die Vergütung der freigestellten Betriebsräte, die bisher den Ruf von sogenannten Co-Managern innehatten, infrage gestellt. Anlass ist ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 10. Januar, das erst jetzt so richtig Wirkung entfaltet. An vielen Arbeitsgerichten wird nun gegen Gehaltskürzungen geklagt. Ein Überblick.
Wo ist der Kern des Problems? Der Bundesgerichtshof hatte in einem Strafverfahren über die hohen Bezüge von VW-Betriebsräten zu entscheiden und dabei quasi die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zur Betriebsratsvergütung konterkariert. Denn in der Arbeitsgerichtsbarkeit gilt der Grundsatz, dass sich die Vergütung an einer „hypothetischen Karriere“ der Arbeitnehmervertreter orientieren darf – demnach zählt die Entlohnung einer vergleichbaren Gruppe, die gleich gestartet ist und dann weitere Karrierestufen erreicht. Bei langjährigen Betriebsratslaufbahnen würden Betroffene ansonsten auf dem niedrigen Einkommensniveau verharren.
Das heißt zum Beispiel: Ein Schlosser kommt in der Industrie auf ein Jahresbrutto von bis zu 60 000 Euro – macht er jedoch den Meister oder steigt zum Teamleiter auf, dann verdient er vielleicht 100 000 Euro. Nach der BAG-Rechtsprechung sollte diese fiktive Karriere auch für einen freigestellten Betriebsrat gelten, der als Schlosser gelernt hat. Der BGH hingegen stellt im Grunde fest: Der Betriebsrat darf nur das Gehalt bekommen, was ihm zum Zeitpunkt seiner Freistellung bezahlt wurde – Weiterbildungen etwa in der Folgezeit zahlen sich demnach nicht aus.
Wie ist die Lage vor den Gerichten? Infolge des BGH-Urteils wurden Bezüge von Dutzenden VW-Betriebsräten gekürzt, was ähnlich viele Klagen zur Folge hatte. Einige Betroffene waren damit schon erfolgreich: Vor einer Woche verurteilte das Braunschweiger Arbeitsgericht den Autobauer in zwei Fällen dazu, den finanziellen Nachteil der Kläger wieder rückgängig zu machen.
In Stuttgart klagen vier Porsche-Betriebsräte gegen die Kürzung – ein erster Gütetermin vor dem Arbeitsgericht findet am 20. Juli statt. Dort hat der Porsche-Betriebsrat auch ein Beschlussverfahren angestrengt, in dem es zudem um Auskunftsansprüche zur Ermittlung der Vergütung vergleichbarer Arbeitnehmer geht. Zwei weitere Verfahren laufen in der Ulmer Außenkammer Ravensburg, sodass im Land derzeit insgesamt sechs Klagen anhängig sind.
Was sind die Folgen in den Unternehmen? Generell sind vor allem größere Mittelständler bis hin zu Konzernen tangiert. Dort zeige sich ein völlig unterschiedlicher Umgang mit dem Thema, wie es von Eingeweihten heißt. So überprüft ein Teil der Arbeitgeber präventiv die Vergütungen ihrer Betriebsräte und kürzt sie mitunter auch. Andere stellen vorsichtshalber die Einkommen der freigestellten Arbeitnehmervertreter unter Vorbehalt. Weitere Unternehmen warten lieber ab und hoffen auf Urteile möglicherweise in höheren Instanzen der Arbeitsgerichtsbarkeit, die mehr Rechtssicherheit bringen könnten.
„Das alles ist ein vollkommenes Wirrwarr“, sagt ein guter Kenner vieler Unternehmen. Aus seiner Sicht fordern diese dringend eine Lösung des Problems von der Politik. Gleiches gilt natürlich für die Betroffenen, für die es oft um etliche Hundert Euro im Monat geht– selbst zwei Fälle, in denen das Gehalt halbiert wurde, sind bekannt geworden.
Unter Arbeitgebern geht auch die Furcht vor dem Verlust hochkompetenter Betriebsräte um. Denn diese sind in der Mehrheit wohl nicht bereit, auf ihrem Ausgangsgehalt zu verharren, sondern wollen sich über eine gängige Karriere im Unternehmen noch finanziell weiterentwickeln. Damit könnten jedoch die weniger guten Betriebsräte in den Gremien zurückbleiben, so die Sorge.
Wie reagiert die Bundesregierung? In erster Linie gefordert ist Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Der hat eine dreiköpfige Kommission eingesetzt, die vom früheren Präsidenten des Bundessozialgerichts, Rainer Schlegel, geleitet wird. Sie solle „Vorschläge für eine klarstellende Regelung im Betriebsverfassungsgesetz ausarbeiten, die zur Rechtssicherheit in der Praxis beitragen“, sagt eine Sprecherin von Heil. „Betriebsräte sollen auch künftig eine faire, nachvollziehbare und rechtssichere Vergütung erhalten.“ Dabei sei am Ehrenamtsprinzip festzuhalten. Eine Ausweitung oder Neuentwicklung der Vergütung von Betriebsräten sei nicht Gegenstand des Auftrags. „Die Regelungsvorschläge sollen dazu beitragen, negative Folgen für die betriebliche Mitbestimmung insgesamt auszuschließen, ohne die Aufklärung und Ahndung von Verstößen gegen das Verbot der Begünstigung einzuschränken.“ Eigentlich sollte die Kommission bis Anfang Juli fertig sein – Insider rechnen quasi jeden Tag mit der Veröffentlichung.
Mercedes-Benz beschäftigt insgesamt etwa 160 freigestellte Betriebsräte und deutet mit Verweis auf die Politik an, noch keine Bezüge gekürzt zu haben: Es gelte, „sowohl die Rechtsprechung des BGH als auch den arbeitsrechtlichen Rahmen zu berücksichtigen“, heißt es auf Anfrage. „Dieser Prozess dauert an, da hier aus unserer Sicht insbesondere auch der angekündigte Gesetzesentwurf der Expertenkommission von Bedeutung sein wird.“
Wie äußert sich die Gewerkschaft? Für Unternehmen und Betriebsräte führe das BGH-Urteil „zu einer enormen Rechtsunsicherheit“, rügt die IG Metall. Der Gesetzgeber sei gefordert, für Rechtsklarheit zu sorgen – eine Reform des Betriebsverfassungsgesetzes sei „überfällig“. Mitbestimmung lebe von engagierten und qualifizierten Betriebsräten. „Die Ampelregierung muss jetzt klipp und klar gesetzlich feststellen: Die Qualifikation und Erfahrung, die die Tätigkeit verlangt, und die dabei übernommene Verantwortung sind der richtige Maßstab für die Bezahlung von Betriebsräten – wie bei allen anderen Beschäftigtengruppen auch“, mahnte eine Sprecherin.