Kontinuität der Macht: Chinas heutiger Präsident Xi Jinping (li.) neben dem verstorbenen Amtsvorgänger Mao Tse-tung. Foto: Andy Wong/dpa

30 Jahre nach dem blutig niedergeschlagenen Volksprotest auf dem Platz des Himmlischen Friedens bleibt China ein Überwachungsstaat. Verflogen ist die Hoffnung, dass sich das Land liberalisiert, meint unser Kommentator Michael Weißenborn.

Stuttgart/Peking - China war und bleibt ein diktatorisches Regime: In der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989 stürmten Soldaten auf den Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Sie schossen auf friedlich demonstrierende Studenten und Bürger der Protestbewegung. Auf dem Höhepunkt kamen eine Million Demonstranten auf dem Tiananmen-Platz und viele Menschen in anderen Städten des roten Riesenreichs zusammen. Hunderte, vielleicht Tausende Demonstranten wurden getötet. Die Soldaten zertrümmerten auch die „Göttin der Demokratie“, eine Frauenstatue mit brennender Fackel. Nicht zufällig ähnelte die Skulptur der New Yorker Freiheitsstatue. Ganz bewusst hatten die Demonstranten ihre Freiheitshoffnungen mit dem Symbol des demokratischen Sendungsbewusstsein Amerikas verbunden.

Bis heute wissen die roten Autokraten in Peking keinen anderen Ausweg, als die Erinnerung an die blutig niedergeschlagenen Proteste zu unterdrücken. Ausländische Berichte werden streng zensiert. Aus der Vergangenheit darf die chinesische Gesellschaft nichts lernen. Neben den Tiananmen-Protesten gilt das genauso für den Horror der großen Hungersnot um 1960 oder die Gräuel der Kulturrevolution. Staats- und Parteichef Xi Jinping baut den perfekten digitalen Überwachungsstaat auf. Ungebremst von Recht oder einer unabhängigen Justiz sammelt die Volksrepublik digitale Daten und bedient sich subtiler Propaganda, um die Bevölkerung zu disziplinieren. Ein sogenanntes Sozialkreditsystem steckt zwar noch in der Erprobungsphase. Aber woher nimmt der Westen die Gewissheit, dass China diese digitale Grausamkeit eines Tages nicht der ganzen Welt überstülpt?

Konfrontation der Großmächte

So wirkt der Volksprotest von vor 30 Jahren und die Erwartung, dass auch in China eines Tages die Freiheit Einzug hält, wie aus einer andern Zeit. Verflogen ist die Hoffnung, dass sich ab 1989 – dem Jahr, in dem auch die Berliner Mauer fiel – Demokratie und Marktwirtschaft bis nach China ausbreitet.

Zwar sind die Volksrepublik und der Westen mittlerweile durch globale Lieferketten aufs Engste wirtschaftlich miteinander verflochten. Dennoch steuern die USA und China schnurstracks auf eine Großmachtkonfrontation zu. Davon macht der Handelskonflikt – Stichwort Zölle – nicht einmal die Hälfte aus. Die Volksrepublik wird mächtiger, schafft sich Interessensphären in Asien und Afrika, erweitert den Einfluss bis nach Lateinamerika, Australien und Europa. US-Präsident Donald Trump beklagt zu Recht, dass China den eigenen Markt abschottet, sich mit Industriespionage an die Spitze betrügt und mit seiner aggressiven Expansion beispielsweise im Südchinesischen Meer eine Gefahr für den Weltfrieden heraufbeschwört. Deshalb will er nicht, dass der Telekom-Konzern Huawei die nächste Generation der mobilen Datenübertragung in die Hände bekommt – am Gängelband chinesischer Geheimdienste.

Keine gemeinsame Strategie

Eigentlich läge es im wohlverstandenen Eigeninteresse, wenn Europa und Amerika gemeinsam eine schlüssige Strategie entwickelten, um den asiatischen Riesen einzuhegen – nicht auszuschließen. Und zwar für die ganze Bandbreite der Herausforderung: sicherheitspolitisch, wirtschaftlich und technologisch. Doch fehlt es dafür in den Hauptstädten auf beiden Seiten des Atlantiks derzeit an der Vision und Staatskunst. Da ist es gut, dass der in Berlin lebende Dissident Liao Yiwu dieser Tage daran erinnert, was der bedrohliche Aufstieg des autoritär regierten China bedeutet: „Wo man sich auch befindet, man muss nur ein Dissident sein und kann abgehört und verfolgt werden.“ Das ist Unterdrückung: brutal wie 1989 oder technisch versiert wie heute.

michael.weissenborn@stuttgarter-nachrichten.de