Eine Römerin demonstriert am 5. März mit Maske gegen den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Foto: AFP/Filipp Monteforte

Hilfslieferungen und Flüchtlingsbetreuung: Seit zwei Wochen gibt es nichts anderes für eine junge Künstlerin aus Stuttgart. Sie möchte über den Krieg reden – anonym, aus Angst um die Verwandten in der Ukraine.

Stuttgart - Liebend gern würde Nadia (Name von der Redaktion geändert) über ihre Kunst sprechen, über ihre Werke, kommenden Projekte; doch die junge Stuttgarterin mit ukrainischen Wurzeln, die nun mit anderen Hilfsleistungen und Flüchtlingsbetreuung koordiniert, möchte nicht identifizierbar sein – aus Sorge um ihre Angehörigen in der Ukraine.

 

„Meine Oma lebt dort, mein Onkel, meine Cousine mit Familie“, sagt sie. „Sie sind auf der Flucht, die Armee kommt immer näher. Außerdem habe ich Freunde in Kiew, wie ich Angehörige einer jungen Generation, die ein freies Leben kennengelernt hat. Die erzählen, dass man zehnmal am Tag Sirenen hört und Schüsse, die Menschen sind völlig verängstigt. Aber sie sagen, sie werden bis zum Schluss bleiben.“

Eine ukrainische Identität

Mit dieser Haltung beeindrucken viele Ukrainerinnen und Ukrainern in diesen Tagen die Welt: Sie beugen sich nicht den übermächtigen russischen Angriffskriegern, sondern leisten Widerstand. Wenn man Nadia fragt, was die Ukrainer auszeichnet, muss sie nicht lange überlegen: „Mut.“

Woher der kommt? „Es gibt einen Patriotismus, der hierzulande schnell negativ konnotiert wird aufgrund der deutschen Geschichte“, sagt Nadia. „In der Ukraine geht es aber seit den 2000er Jahren darum, die eigene Identität zurückzugewinnen, die uns im 20. Jahrhundert genommen wurde, durch die Sowjetunion, Hitlerdeutschland. Die Menschen sagen: Wir können uns nicht noch einmal unterdrücken lassen – entweder wir leben in Freiheit, oder wir sterben.“

Revolutionäre Erfahrungen

Dass so viele Zivilisten zu den Waffen greifen, erscheint dennoch zumindest ungewöhnlich. „Das ist ein Resultat des Krieges, der seit der Annexion der Krim im Jahr 2014 im Osten der Ukraine herrscht“, sagt Nadia, „ein Resultat der Hilflosigkeit. In Donezk und Luhansk wurde seitdem ununterbrochen gekämpft – man hat diese Kämpfe nur lange nicht als Krieg bezeichnet.“

Auch die revolutionären Erfahrungen von 2013 und 2014 spielen eine Rolle: Auf dem Maidan in Kiew und andernorts protestierten Bürger gegen den russlandtreuen Präsidenten Viktor Janukowitsch und für eine Annäherung an die Europäische Union – so erfolgreich, dass Wladimir Putin aus Sorge um die russische Einflusssphäre mit militärischer Gewalt antwortete. „Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben einen Präsidenten gestürzt und einen anderen erwählt“, sagt Nadia. „Sie wollen demokratische Strukturen, Freiheit und Selbstbestimmung.“

„Als würde Deutschland Österreich angreifen“

Besonders entrüstet ist sie über Putins Behauptung einer „Entnazifizierung“. „Ja, es gibt Nazis in der Ukraine“, sagt sie, „ganz genau wie in Deutschland. Soll deswegen auch Deutschland ,befreit‘ werden? Das ist Lügenpropaganda.“ Im Gegenteil sei die Ukraine ja bis heute ein Vielvölkerstaat: „Dort leben Armenier, Krimtataren, Rumänen, Polen und Russen, Moslems und Juden wie der ukrainische Präsident. Es gibt unterschiedliche Arten, ukrainisch zu sein – aber einen großen gemeinsamen Nenner.“

Zugleich bestätigt sie die starke Verbindung zu Russland: „Ich habe in meiner Familie ethnische Russen, es gibt fast niemanden, der niemanden im anderen Land kennt. Die meisten Ukrainer können Russisch oder sprechen es ausschließlich. Bei der Versorgung von Flüchtlingen haben wir hier in Stuttgart eine Liste an Menschen mit ukrainischem Migrationshintergrund, die übersetzen – rund 90 Prozent verstehen Ukrainisch, können es aber kaum sprechen. Das ist einer der schlimmsten Aspekte an diesem Krieg, dass uns Menschen angreifen, die unsere Sprache sprechen. Das ist, als würde Deutschland Österreich angreifen oder die Schweiz.“

„Russen nicht unter Generalverdacht stellen“

Dann wiederholt Nadia, was in den vergangenen Tagen oft zu hören war und zum Problem zu werden droht: „Ich bitte alle, sich nicht diskriminierend zu verhalten gegenüber Russinnen und Russen, die hier leben. Die meisten können nichts für diesen Krieg, viele sind aus Russland geflohen. Viele helfen uns mit der Koordinierung der Hilfsgüter und bei der Aufnahme der Flüchtlinge, sie reisen zum Teil bis an die ukrainischen Grenzen, um zu helfen. Es wäre fatal, wenn sie jetzt alle unter Generalverdacht gerieten.“

Sie selbst ist als Teenager nach Deutschland gekommen. „Ich habe zwei Heimatländer, mein Herz schlägt für beide“, sagt sie. „Ich habe auch meinem Freund gesagt: Wenn der Krieg übergreifen würde, könnte ich nicht fliehen aus Deutschland. Ich würde bleiben und unsere Freiheit verteidigen.“

Vom aktuellen Einsatz der Stuttgarter ist sie beeindruckt: „Die Bereitschaft ist groß, viele helfen, obwohl sie vorher null Beziehung zur Ukraine hatten, sie stellen Wohnungen, fahren bis an die Grenze oder sogar ins Land hinein.“

Rund um die Uhr im Hilfseinsatz

Nadia glaubt nicht, dass der Krieg noch zu verhindern gewesen wäre – „außer die Ukraine hätte freiwillig darauf verzichtet, ein souveräner Staat zu sein. Dafür gibt es viele Hinweise. So hat China Putin offenbar gebeten, nicht vor dem Ende der Olympischen Spiele anzugreifen.“ Seit dem 24. Februar, dem Beginn der russischen Invasion, dreht sich ihr Leben rund um die Uhr um Nothilfe –und das wird unbestimmte Zeit so bleiben. Bis zu dem Tag, an dem sie nicht mehr über Krieg reden muss – sondern wieder über ihre Kunst sprechen kann.