In einer Wohnanlage in Shanghai werden Menschen auf Corona getestet. Foto: AFP/Hector Retamal

Langsam gehen die superstrengen Covid-Regeln auch den geduldigen Chinesen auf die Nerven. Und Millionen Arbeitsmigranten und Tagelöhner sind in ihrer Existenz bedroht.

Um Mitternacht zogen die Anwohner in Scharen auf die Straße. Halb Shanghai war von Dienstag auf Mittwoch auf den Beinen, um die nächstgelegenen Gemüseläden und Späteinkaufsshops aufzusuchen und alles weg zu kaufen. Viele, die nicht schnell genug reagierten, gingen leer aus. Der Grund für die plötzlichen Panikkäufe: Wie ein Lauffeuer hatte sich das Gerücht verbreitet, die Stadtregierung würde einen vollständigen Lockdown verhängen.

Null-Covid heißt das Zauberwort

Diese Tage stellen die Belastbarkeit der Chinesen auf die schwerste Probe seit Frühjahr 2020. Viele Millionenstädte sind abgeriegelt, überall im Land werden wie damals provisorische Quarantäne-Camps und Covid-Spitäler errichtet. Die täglich gemeldeten Infektionen liegen seit einer Woche relativ konstant bei knapp 5000, die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein. Für die epidemiologische Nulltoleranz-Strategie ist jedoch im Grunde jeder noch so kleine Infektionsstrang eine existenzielle Bedrohung.

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Wie viel Wut sich zuweilen aufgestaut hat, belegt ein Handy-Video aus der südchinesischen Tech-Metropole Shenzhen: Mit rabiater Gewalt bahnt sich die Menschenmasse ihren Weg durch die Stahlzäune, die das Viertel zuvor 23 Tage abgeriegelt hatten. „Wir wollen leben, wir wollen arbeiten”, schreien einige der Anwohner in Richtung der Sicherheitskräfte.

Die Situation in China scheint aus dem Ruder zu laufen

Für die mittelständischen Großstädter mag der Lockdown eine mentale Belastung sein, den Fabrikarbeitern und Tagelöhnern entzieht er ihre einzige Einkommensgrundlage. Denn die chinesische Regierung verteilt praktisch keine finanzielle Entschädigungen für Verdienstausfälle, man unterstützt fast ausschließlich Unternehmen.

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Aus schierer Überlebensstrategie schlafen bereits jetzt etliche Lieferkuriere in Shenzhen auf der Straße in Zelten, damit sie tagsüber weiterarbeiten können. Denn zuhause in ihren Unterkünften droht jederzeit ein zweiwöchiger Lockdown.

Es scheint, als ob die Situation in der Volksrepublik langsam aus dem Ruder läuft – und zwar nicht wegen des Virus selbst, sondern wegen der bekämpfenden Maßnahmen. Im Nordosten stehen Menschen bei Schneestürmen und zweistelligen Minusgraden vor den Testzentren Schlange. In einigen Provinzstädten töten Mitarbeiter des Gesundheitsamts die – potenziell infizierten – Hunde und Katzen von Anwohnern, die in Quarantäne-Camps geschickt wurden. Polizisten stürmen Wohnungen, um „Test-Verweigerer“ mit körperlichem Zwang zum Einlenken zu bringen. Immer wieder kommt es zudem in abgesperrten Wohnsiedlungen zu Handgemengen.

Im Internet melden sich Betroffene

Auf der Online-Plattform Weibo hat sich eine Frau aus Shanghai zu Wort gemeldet: Sie schreibt, dass ihre ganze Familie positiv getestet wurde, aber nur milde Symptome hatte. Nachdem sie sich zunächst in einem Hotel isolieren durften, wurden sie ohne Grund in eine überfüllte Klinik verlegt. Dort lagen sie dann, aus Mangel an freien Räumen, in den ungeheizten, feuchtschwülen Fluren, was eine Genesung erschwerte.

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In Extremfällen führt der „Null Covid“-Ansatz zum Tod: In der vorherigen Woche ist eine Krebspatientin aus Shanghai gestorben, weil sie aufgrund des Lockdowns nicht ins Krankenhaus durfte. In Changchun starb eine Vierjährige an Kehlkopfentzündung, weil das Spital sie ohne negativen Covid-Test nicht behandeln wollte.

Null-Covid-Strategie hat ihren Preis

Zensur
 Normalerweise bekommt man kritische Äußerungen im Internet in China nicht zu sehen, da die Zensur die Smartphone-Aufnahmen umgehend aus den sozialen Medien löscht. Doch dank chinesischer Aktivisten, die die Videos archivieren und auf ausländische Plattformen hochladen, bleiben sie für die Nachwelt erhalten.

Erfolg
 Diese Dokumente werden später wichtig sein, um die Null-Covid-Strategie auf ihren Erfolg zu überprüfen: Klar ist, dass die Volksrepublik bisher aufgrund radikaler Maßnahmen unzählige Virustote in der Bevölkerung verhindert hat. Weniger klar ist, welchen Preis sie dafür zahlen muss.