Nach wie vor gibt es in Stuttgart viel zu wenige Sozialwohnungen. Um zusätzliche zu schaffen, widmet die Stadt immer wieder bereits bestehenden günstigen Wohnraum um. Doch die Mieten können dadurch sogar steigen – und mache Bewohner sind fassungslos.
Stuttgart - Der Brief, den der Anwohner der Wangener Nähterstraße bekommen hat, lässt ihn kopfschüttelnd zurück. Ihm und seinen Nachbarn in insgesamt 24 Wohnungen teilt die Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft (SWSG) mit, dass dieser Teil der sogenannten kleinen Vatikansiedlung umfassend modernisiert werden soll. Die 101 Jahre alten Gebäude sind ein Kulturdenkmal, die Wohnungen in recht unterschiedlichem Zustand. Unter anderem soll es zeitgemäßere Grundrisse geben. Die bisherigen Mieter sollen ausziehen, Ersatzwohnungen werden angeboten.
„Genau dasselbe ist mir vor einigen Jahren schon einmal passiert“, sagt der 72 Jahre alte Schwerbehinderte. Damals habe ihm die städtische Wohnungsbautochter zugesagt, dass seine neue Wohnung nicht auf der Modernisierungsliste stehe. Und noch etwas irritiert den Rentner und seine Nachbarn: Ganz am Ende des Schreibens wird vermerkt, nach den Arbeiten sei ein Wohnberechtigungsschein nötig. Sprich: Die Wohnungen sollen zu Sozialwohnungen werden.
Die SWSG-Mieterinitiative kritisiert das Vorgehen scharf. Anstatt zusätzliche Sozialwohnungen zu bauen, widme das Unternehmen im Bestand Gebäude um, damit sich die Statistik der Stadt etwas besser lese. Im Zuge der Modernisierung würden die neuen Sozialwohnungen dann teurer als zuvor. Dafür gebe es bereits weitere Beispiele, in denen man auf die Barrikaden gegangen sei. Auch in Wangen läuft eine Unterschriftenaktion. „Diese Politik der SWSG führt nicht dazu, dass die Notfallkartei der Stadt kleiner wird, sondern dazu, dass Mieter, die bisher eine frei finanzierte Wohnung bezahlen konnten, plötzlich zu Sozialwohnungsmietern werden und auch noch mehr Miete bezahlen müssen“, sagt Sprecherin Ursel Beck.
Rückgang um fast die Hälfte
Tatsächlich ist das Thema bezahlbarer Wohnraum in Stuttgart ein massives Problem. Ende vergangenen Jahres gab es in der Landeshauptstadt noch 14 400 Sozialwohnungen. Das waren erstmals seit Jahrzehnten wieder einige mehr als im Jahr davor. Doch insgesamt ist der Rückgang enorm. Die Stadt gibt an, dass es 1992 noch rund 22 000 gewesen sind. Der Mieterverein spricht dabei von Beschönigung und rechnet seinerseits mit über 27 000 Sozialwohnungen zum damaligen Zeitpunkt. Und in der Zwischenzeit hat Stuttgart noch an Einwohnern zugelegt. In der Vormerkdatei für Leute, die eine Sozialwohnung suchen, stehen derzeit gut 4500 Fälle, etwa 3000 davon gelten als dringlich. Auch diese Zahl ist in den vergangenen zehn Jahren massiv gestiegen.
„In Stuttgart gibt es viel zu wenige Sozialwohnungen. Die Ziele werden nicht ansatzweise erreicht, andere Städte tun viel mehr“, kritisiert der Mietervereinsvorsitzende Rolf Gaßmann. Die Bilanz der vergangenen Jahre sei „sehr bescheiden“. Zudem trickse die Stadt, indem sie bestehende günstige Wohnungen zu Sozialwohnungen mache. „Das ist ein Kniff. Dadurch werden keine zusätzlichen Wohnungen geschaffen und die bestehenden steigen zum Teil sogar im Preis.“
150 Belegungsrechte pro Jahr
Gemeint ist damit auch eine Praxis, die seit 2016 angewandt wird. Damals ist im Bündnis für Wohnen beschlossen worden, dass Wohnungsbaugenossenschaften und weitere Wohnungsbauunternehmen der Stadt pro Jahr 150 Belegungsrechte für Wohnungen überlassen. Die Stadt kann dann dort Menschen von der Warteliste für Sozialwohnungen unterbringen. Im Gegenzug erhalten die Unternehmen Zugang zu günstigem Bauland. Ausgeschöpft worden ist die Zahl indes nicht. Bis Ende 2019 hat die Stadt auf diesem Weg 424 Wohneinheiten belegt. Allerdings sind manche dadurch sogar teurer geworden.
Die Landes-Bau-Genossenschaft Württemberg (LBG) zum Beispiel hat der Stadt in den vergangenen Jahren 25 Wohnungen zur Belegung überlassen. „Dadurch hat sich bei etwa 15 davon die Miete erhöht“, sagt LBG-Vorstand Josef Vogel. Diese Auswirkung sei „insbesondere auf unsere Geschäftspolitik zurückzuführen“. Sprich: Die LBG bietet ihre Wohnungen in der Regel günstiger an als eine Sozialwohnung.
Bei der Stadt hält man solche Fälle für Ausnahmen. Gerade das Bündnis für Wohnen sei ein „wesentlicher Bestandteil, um bezahlbaren Wohnraum in Stuttgart zu schaffen“, heißt es beim Amt für Stadtplanung und Wohnen. Man müsse zudem bestehende Sozialwohnungen erhalten und zusätzliche in Neubauten schaffen. „Nur durch die intensive Bearbeitung von allen Bausteinen ist es möglich, den Bestand an Sozialmietwohnungen zu erhalten und langfristig wieder zu erhöhen.“
3,9 Millionen Euro Investitionen
Auch bei der SWSG kann man die Vorwürfe nicht nachvollziehen. In der Nähterstraße erhöhten sich die Mieten durch die Modernisierung voraussichtlich um lediglich 40 Cent pro Quadratmeter. Man investiere 3,9 Millionen Euro. Jeder Mieter könne auf Wunsch in seine alte Wohnung zurück. Nur die neu vermieteten würden als Sozialwohnungen angeboten. Generell liege die Durchschnittsmiete bei der SWSG „mindestens 20 Prozent unter dem Mittelwert des Mietspiegels“, sagt eine Sprecherin. Zudem seien von den 18 800 SWSG-Wohnungen derzeit 7615 öffentlich gefördert. Zusätzliche schaffe man nicht nur im Bestand, sondern auch bei Neubauprojekten.
In der Nähterstraße wird sich so mancher Mieter trotzdem weiter wundern. Über Wohnräume, die plötzlich zu Sozialwohnungen werden und dabei im Preis steigen.