Grüne: Ja zum Atomausstiegsgesetz der Regierung - Alle Augen richten sich auf Kretschmann.

Berlin - Mit ihrem Ja zum Atomausstieg bis 2022 schwören die Grünen bei ihrem Herzensthema Atom der reinen Lehre ab - und nehmen Kurs aufs Regieren 2013. Mit welchem Koalitionspartner, das ist offener als je zuvor.

Winfried Kretschmann zitiert ja selbst gern. Um den Ton seiner Rede zu treffen. Um Konzentration einzufordern. Auf dem Berliner Sonderparteitag der Grünen zum Atomausstieg der schwarz-gelben Bundesregierung wirkt ein Zitat frei nach Rainer Maria Rilke wie auf Kretschmann zugeschrieben: Der erste grüne Ministerpräsident der Republik genügt sich im "Sitzen und Sein". Er sitzt und ist er selbst - während um ihn herum Aufgeregtheit herrscht.

Allgegenwärtig und sehr bildhaft ist Kretschmanns Sitzen und Sein: Immer wieder fängt ihn die Saalkamera ein, weil er so gelassen dasitzt. Es ist ein Stillhalteabkommen der besonderen Art. Sitzen und Grün-Sein: Schließlich sitzt er im Bundesrat mit den 16 Ministerpräsidenten an einem Tisch und ringt ihnen grüne Forderungen beim Ausstiegsprozess ab. Kretschmann ist das Gesicht dieses Sonderparteitags. So will es die Regie. Der Regierungschef von Baden-Württemberg soll Ruhe in den Laden bringen, der so vehement über den von der Bundesregierung vorgelegten Atomausstieg bis 2022 streitet. Es ist, als wollten die Parteitagsstrategen die aufgewühlte Basis sedieren mit Bildern vom furchtlos in sich ruhenden Kretschmann.

 "Ich bin stolz auf meine Partei"

Sie haben es nötig. Mulmig fühlt sich Claudia Roth. Mit annähernd trotzigem Blick lehnt Jürgen Trittin mit dem Rücken zur Wand. Zweifel umflort die angestrengt ins Plenum blickenden Augen Cem Özdemirs. Und Renate Künast geht langsam durch die Reihen, das Kinn in die Hand gestützt - ansprechbar will sie sein auf diesem Parteitag, auf dem es für die Grünen mal wieder um vieles, vielleicht um alles geht.

Sechs Stunden und zig Reden und Gegenreden später ist das Führungsquartett der Grünen außer Rand und Band. Als hätten sie alle das entscheidende Tor im dramatischen Finale geschossen, liegen sie sich in den Armen, irgendein Daumen ist immer nach weit oben gereckt, das glücktaumelnde Winken und Jubeln will kein Ende nehmen. Geschafft! Der Kongress stimmt dem Atomausstieg der schwarz-gelben Bundesregierung zu - und die Partei freut sich am meisten über sich selbst, diese Größe zu zeigen: die Größe, dem früheren energiepolitischen Erzfeind von Union und FDP grünes Licht zu erteilen für ihr ureigenes Projekt, den Atomausstieg Deutschlands. "Ich bin stolz auf meine Partei", sagt Roth, als könne sie kaum fassen, dass alles gutgegangen ist. "Wir haben nach jahrzehntelangem Kampf einen wirklichen Sieg errungen."

Selbstverständlich hatten die Parteivorsitzenden Özdemir/Roth und die Fraktionschefs Trittin/Künast zuvor Sorge, in ihrer Autorität beschädigt zu sein, sollte ihr Plan scheitern und die 800 Delegierten den Zeitplan zum stufenweise Atomausstieg bis 2022 ablehnen. In Vorbereitung des Parteitags - und als Gegenleistung - hatte das Quartett die sechs Begleitgesetze, die die Merkel-Regierung am Donnerstag in den Bundestag einbringen will, bereits als unannehmbar bezeichnet. Damit die Basis auch noch einen Sieg feiern kann, verpflichtet sie die Führung, sich dafür einzusetzen, dass der Atomausstieg als Staatszielbestimmung im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert wird.

Kretschmann lässt sich Lob gefallen

Sitzen und sich selbst genug sein: Winfried Kretschmann lässt sich Lob gefallen. Trittin betont immer wieder, dass es der grüne Neuling im Bundesrat war, der Angela Merkel mit den anderen Länderchefs gezwungen habe, die Atomkraftwerke einzeln und schrittweise statt allesamt erst 2022 abzuschalten.

Sitzen und das Maß aller Dinge sein: In seiner Rede rückt Kretschmann die Verhältnisse zurecht: "Union und FDP haben eine Kehrtwende machen müssen, um nach Fukushima auf Grünen-Kurs umzuschwenken. Aber wir bleiben das Maß der Dinge bei der Vorbereitung der Energiewende, weil wir mit unserer Anti-AKW-Erfahrung den Umstiegsprozess am besten begleiten können." Augenzwinkernd beschreibt er sein Verständnis neuer grüner Kompromissfähigkeit: "Wenn eine 20-Prozent-Partei wie wir es schafft, sich zu 80 Prozent durchzusetzen, ist das ein guter Kompromiss." Verantwortung übernehmen, auch wenn die eigenen Forderungen weitgehend erfüllt sind, heißt das.

Sitzen und ein weiteres Stillhalteabkommen erfüllen: Mit Lob gegenüber der Kanzlerin hält sich Kretschmann diesmal zurück. Kein weiterer "großer Respekt" für deren Energiewende. Auch zu Koalitionen keine Festlegung wie vor zwei Wochen, als er neben Rot-Grün auch "ganz andere Varianten", "etwa Schwarz-Grün", für "denkbar, aber nicht zwingend" hielt, da durch den Atomausstieg eine wesentliche Hürde gefallen sei. Bloß kein Öl ins Feuer gießen und neben dem prekären Atomthema noch eine Parteitagsdiskussion um Schwarz-Grün eröffnen. Aber stolz macht Kretschmann seine Rolle als Gestalter von epochalen Entscheidungen eben doch - selbst wenn Schwarz-Gelb im Bundestag über eine Mehrheit verfügt und dort die Zustimmung der Grünen nicht relevant ist.

Zur Regierungsfähigkeit gehört mehr als ein Thema

Doch wie sich diese Atomprotest-Partei und Ausstiegs-Patent-Partei zur feindlichen Übernahme ihrer Positionen durch den politischen Gegner verhält, ist sehr relevant - nicht nur für die Grünen selbst, sondern erst recht für jene Wähler, um die sie im konservativen Spektrum werben. So diese bisher dem beiderseits gepflegten Lagerdenken frönen, haben die Schwarzen nun keinen Anlass mehr zu behaupten, die Grünen seien eine "Dagegen-Partei", die aus Prinzip Nein zum schwarz-gelben Atomausstieg sagen müsse. Oder gar zu schwarz-grünen Bündnissen. Und jetzt?

Was, wenn die Atomenergie abgeräumt ist und den Grünen das Thema abhandenkommt? Zur Regierungsfähigkeit gehört mehr als ein einziges großes Thema. Denn die Grünen wollen wieder an die Macht: 2013 soll es so weit sein, und dann sei noch immer genug Zeit, den Atomausstieg vorzuziehen, meint Claudia Roth. Eine Ein-Thema-Partei indes waren die Grünen nie seit ihren frühen Wahlerfolgen der GAL in Hamburg und Berlin, dem Einzug ins hessische Kabinett, in den Bundestag und erst recht in die rot-grüne Bundesregierung. Fukushima verengte zuletzt lediglich den Blick auf die Atomdebatte.

Ausgehend von ihrer Ausstiegshaltung, wollen die Grünen den ökologischen Umbau der Energieversorgung: Die Förderung erneuerbarer Energien, Ökosteuer, Klimaschutz, Energiesparen durch Gebäudedämmung sind das eine - eine ökologische Verkehrspolitik auf Schienen, Tempolimit auf Autobahnen und teures, weil kerosinbesteuertes Fliegen das andere. Seit Jahren plädieren sie für die Einführung einer Vermögensteuer, für Ganztagsschulen und Bildungsinvestitionen in den Klassen. Mit der Bürgerversicherung wollen sie das Gesundheitswesen reformieren, mit "grüner Technologie" einen weiteren Wirtschaftsboom fördern. In Sachen Bürgerrechte und Netz(Internet)-Politik) reiben sie sich mit der FDP, die ähnlich liberale Vorgaben machen will.

Doch in Berlin und in den Ländern geht das Ringen um den Ausstieg aus der Kernkraft weiter, davon ist Winfried Kretschmann nach dem hart umkämpften Ausstiegsbeschluss seiner Partei überzeugt: "Wir stehen erst am Anfang des Umstiegs." Sagt's, steht auf und ist froh, sich wieder frei bewegen zu können. Nach all dem Sitzen und Sein.