Opfern von Gewalttaten steht seit 1. Januar eine psychosoziale Prozessbegleitung zu. Foto: Prävent Sozial/dpa

Für Opfer schwerer Gewalttaten ist der Gang vor Gericht meist eine Tortur. Um in Strafprozessen so angstfrei wie möglich aussagen zu können, steht ihnen jetzt eine psychosoziale Prozessbegleitung zu. Erste Erfahrungen aus einem Pilotprojekt gibt es schon

Stuttgart - Wenn Tina Neubauer erklärt, welche Rolle sie in Strafprozessen einnimmt, dann breitet sie die Arme aus und schaukelt behutsam hin und her. Die Diplompädagogin sieht sich als eine Art Waage zwischen der Justiz und den Opfern.

Seit das baden-württembergische Justizministerium im März 2015 das Pilotprojekt Psychosoziale Prozessbegleitung initiierte, sind sie und ihre zwei Kollegen über hundert Mal in diese Rolle geschlüpft. In den drei Landgerichtsbezirken Stuttgart, Karlsruhe und Ellwangen testeten sie eine neue Form der Prozessbegleitung, die seit dem 1. Januar deutschlandweit von Opfern schwerer Straftaten beantragt werden kann.

Schutzbedürftigen Verletzten, vor allem Kindern und Jugendlichen, steht dann rechtlich eine Fachkraft zu, die sie vor, während und nach der Hauptverhandlung begleitet. Barbara Wüsten, Leiterin des Referats Opferrechte beim Verein Weißer Ring, nennt diesen Rechtsanspruch einen „bedeutenden Fortschritt“. Eine Begleitperson, die noch dazu fachlich ausgebildet ist, sei für schwer Betroffene eine große Unterstützung.

Keine rechtliche Beratung

Tina Neubauer ist solch eine Hilfe. Sie arbeitet nicht nur für die Bewährungshilfe Stuttgart und deren Tochter PräventSozial, die 44-Jährige hat sich zudem vor zehn Jahren zur psychosozialen Prozessbegleiterin weiterbilden lassen und gehörte damit zu den ersten im Land. Inzwischen können in Baden-Württemberg etwa 45 psychosoziale Prozessbegleiter eingesetzt werden.

Eine spezielle Schulung ist vorgeschrieben, um der Aufgabe gerecht zu werden. Fachkräfte wie Tina Neubauer müssen nicht nur in einem sozialpädagogischen Beruf arbeiten, sondern sich darüber hinaus mit den Abläufen von Ermittlungs- und Strafverfahren auskennen. Dabei haben sie sich strikt aus einer rechtlichen Beratung herauszuhalten. „Wir begleiten, aber beraten dürfen wir nicht“, erklärt Neubauer.

Weder über den Tatvorwurf noch über die Aussage darf die Pädagogin mit dem Opfer sprechen. „Jedes Gespräch über die Tat kann die Erinnerung beeinflussen“, erklärt sie. Ein Blick in die Akten steht ihr deshalb nicht zu. Lediglich über den Beziehungsgrad zum Beschuldigten – stammt er aus der Familie oder ist es ein Fremder – und darüber, um welches Delikt es sich handelt, wird sie informiert.

Den Zeugen ein Stück Kontrolle geben

Für Holger-C. Rohne, den Vorsitzenden der Taskforce „Anwalt für Opferrechte“ des Deutschen Anwaltvereins, liegt in diesen Bestimmungen der Knackpunkt. Für den Heidelberger Rechtsanwalt ist das neue Gesetz nur so gut wie seine Umsetzung. „Wenn der Prozessbegleiter unbewusst Einfluss auf die Aussage des Opfers nimmt, dann kann das ein ganzes Strafverfahren gefährden oder sogar zu Fall bringen“, sagt er. Da sei jeder einzelne Prozessbegleiter gefragt. „Wenn es ihnen aber gelingt, die Belastung des Zeugen abzufangen und Sicherheit zu vermitteln – dann sehen wir das sehr positiv.“

Tina Neubauer kennt diese Vorbehalte und Ängste. Sie aber glaubt an diese neutrale Rolle und schätzt sie. „So muss ich mich nicht zerreißen.“ Ihre Aufgabe ist, den Zeugen über die Abläufe zu informieren und ihm so ein Stück Kontrolle zu geben. „Für die Betroffenen ist ein Prozess eine existenzielle Situation“, sagt sie. Tina Neubauer zeigt auf, was auf die Zeugen zukommt und welche Unterstützung sie erwarten können.

Gemeinsam besuchen sie den leeren Gerichtssaal, um die Angst zu nehmen. Sie erklärt juristische Begriffe und stellt auf Wunsch Kontakt zu einem Anwalt oder Therapeuten her. Kinder dürfen auch mal den Richter ohne Robe treffen. Bei der Verhandlung sitzt sie auf Wunsch neben dem Zeugen. „Ich halte aber nicht Händchen“, sagt sie bestimmt. Wenn es nötig sei, dann lege sie Taschentücher auf den Tisch und berühre mit ihrer Hand kurz Schulter oder Rücken. „Aber ich tüttel nicht und achte auf ausreichend Abstand.“

Dankeskärtchen im Briefkasten

Matthias Grewe, Direktor des Amtsgerichts Ravensburg und Sprecher des Vereins Richter und Staatsanwälte in Baden-Württemberg, sieht die Prozessbegleiter als wichtige Stütze. „Sie erklären die Abläufe und schaffen so Vertrauen in unsere Arbeit, das kann eine gute Sache für uns sein“, sagt er.

Nicht nur der Prozess selbst, auch der Ausgang des Verfahrens ist für die Opfer eine kritische Phase. Bei einer Bewährungsstrafe oder einem Freispruch versucht Neubauer das Verfahren aufzuarbeiten und den Opfern die Frustration zu nehmen. Lange Prozesstage gehen auch an ihr nicht immer spurlos vorüber. „Die Opfer weinen vor uns, manchmal sind sie auch wütend.“ Da komme auch sie mal an ihre Grenzen.

Viele ehemalige Zeugen melden sich, wenn sich ihr Prozesstag jährt. Gerade in der Weihnachtszeit landen immer wieder Dankeskärtchen in Tina Neubauers Briefkasten oder auf ihrem Anrufbeantworter. Die Mutter eines Mädchens, das Opfer eines sexuellen Übergriffs wurde, hinterließ kürzlich diese Nachricht: „Der Kleinen geht es wieder richtig gut, sie scheint alles gut überstanden zu haben.“ Das sind Neubauers liebste Weihnachtsgrüße.