Foto:  

Kinder oder Opfer von schweren Gewalt- und Sexualverbrechern fällt es in der Regel schwer, vor Gericht auszusagen. In Stuttgart und der Region versuchen Zeugenbegleiter, ihnen die Angst vor der Vernehmung zu nehmen. Ein Fallbeispiel.

Stuttgart - Sylvia (Name von der Redaktion geändert) wurde vergewaltigt. Vom Freund ihrer ehemals besten Freundin. Als die Staatsanwaltschaft Anklage erhob und das Datum der Gerichtsverhandlung immer näher rückte, lag Sylvia nachts oft wach im Bett. Im Gespräch mit unserer Zeitung erzählt sie, wie der anstehende Auftritt vor Gericht sie belastete. Sie habe Angst gehabt, das Gericht könne ihre Aussage als „nicht gut genug“ und damit weniger glaubhaft einstufen als die Einlassung des Angeklagten. Es ist kein Einzelfall, dass ein Opfer so denkt. Gerade bei Sexualverbrechen steht in aller Regel Aussage gegen Aussage. Das Urteil hängt dann weitestgehend am Erinnerungsvermögen des Opfers. Nicht selten entwickelt sich nach Einschätzung von erfahrenen Prozessbeteiligten im Unterbewusstsein des Opfers daher ein Druck, sich bei der Vernehmung an alle Details erinnern zu müssen und alles richtig zu machen.

Als Sylvia ihrer Rechtsanwältin Claudia Arnold (Waiblingen) von der belastenden Situation erzählte, machte die Juristin sie auf die Möglichkeit der Zeugen- und Prozessbegleitung aufmerksam. Deren Ziel ist es, dass Zeugen den Ablauf vor Gericht vor der Verhandlung vorab kennenlernen, einen empathischen Menschen an der Seite wissen und ihre Angst vor der Aussage minimieren.

Stickelberger: „Ungemein wertvoller Beitrag für Rechtspflege“

Noch-Justizminister Rainer Stickelberger (SPD) sagt, die Zeugenbegleitung leiste einen „ungemein wertvollen Beitrag für eine gut funktionierende Rechtspflege“. Auch Carolin Bourgun kennt den enormen Wert des Programms. Als Richterin am Landgericht Stuttgart hat sie immer wieder mit begleiteten Opfern zu tun. „Durch die Zeugen- und Prozessbegleitung wird eine Atmosphäre geschaffen, in der sich die Zeugin oder der Zeuge sicherer fühlt und während der Befragung stabiler ist“, sagt sie, „das erhöht die Qualität der Aussage.“

In Stuttgart und der Region gibt es die Zeugenbegleitung bereits seit 1999. Inzwischen kümmern sich drei Hauptamtliche und 25 Ehrenamtliche um die Fälle. „Durch unseren Stamm an Ehrenamtlichen haben wir den Luxus, keine Anfrage abweisen zu müssen und flexibel reagieren zu können“, sagt Sabine Kubinski. Sie ist eine der drei hauptamtlichen Zeugenbegleiter beim Träger PräventSozial, der gemeinnützigen Tochtergesellschaft des Bewährungshilfevereins Stuttgart. Kubinski leitet die Ehrenamtlichen an, koordiniert die Termine und verteilt die Anfragen nach Schwere des Delikts. Brisante Fälle übernehmen Tina Neubauer und Christian Veith, die eine Zusatzausbildung zur psychosozialen Prozessbegleitung absolviert haben. Die weniger betreuungsintensiven Fälle gehen an Kubinski und die Ehrenamtlichen.

Zeugenbegleiter sprechen nicht über den Inhalt der Aussage

Nur eine Regelung ist bei allen Verfahren – ob normale Zeugen- oder psychosoziale Prozessbegleitung – dieselbe: Die Begleiter sprechen mit dem Zeugen zu keinem Zeitpunkt über den Inhalt der Aussage. „Da sind wir sehr strikt“, sagt Kubinski, „denn wir wollen weder einen Zeugen beeinflussen noch uns selbst zum Zeugen machen. Wir erklären nur die Abläufe, zeigen zum Beispiel im Vorfeld den Gerichtssaal und begleiten den Zeugen am Prozesstag.“

Sylvia fand die Idee gut, nicht allein zur Aussage gehen zu müssen. Arnold wandte sich daraufhin im Februar dieses Jahres an PräventSozial und bat um eine Zeugenbegleitung für ihre Mandantin. Weil Kubinski wusste, dass sie am Tag der Verhandlung Mitte Februar verhindert sein würde, fragte sie bei Marlis Brönner an. Und die sagte zu.

Marlis Brönner aus Stuttgart engagiert sich ehrenamtlich

Die 72 Jahre alte Rentnerin aus dem Stuttgarter Stadtbezirk Sillenbuch engagiert sich schon seit 2003 ehrenamtlich als Zeugenbegleiterin. Warum sie das macht? „Es ist eine sinnvolle Tätigkeit. Ich lasse nicht nur Zeit und Kraft, ich bekomme von den Menschen auch etwas zurück“, entgegnet sie. Zudem habe sie anderen Menschen immer schon gerne geholfen. Das spiegelt sich auch in ihrer beruflichen Laufbahn wider: Einst startete sie als Sozialarbeiterin im Jugendpsychiatrischen Dienst, dann hörte sie als Telefonseelsorgerin Menschen zu und gab Ratschläge. Und später arbeitete sie als Verfahrenspflegerin an einem Familiengericht. Ihr Mann ist Jurist. Das Ehrenamt als Zeugenbegleiterin habe da irgendwie nahe gelegen, sagt sie.

Als Brönner die Anfrage von Sylvia übernahm, erhielt sie – wie üblich – die wichtigsten Eckdaten: den Namen, das Alter und die Telefonnummer der Zeugin, das gerichtliche Aktenzeichen, den Ort der Hauptverhandlung, den Namen der Richterin und der Nebenklagevertretung sowie eine kleine Information, um welches Delikt es sich handelt. Danach rief sie Sylvia an: „Ich habe sie gefragt, ob sie den Gerichtssaal vorher mal sehen wolle.“ Sylvia wollte. Beide trafen sich eine Woche vor der Verhandlung und fuhren gemeinsam zum Amtsgericht Nürtingen, in dem der Prozess stattfinden sollte.

Vergewaltigungsopfer: „Es hilft tatsächlich“

„Als ich das erste Mal den Saal betrat, hatte ich erst mal einen Klumpen im Hals und habe kaum Luft bekommen“, erinnert sich Sylvia. Sie setzte sich auf die Zuschauerbank, sagte nichts und wartete einige Minuten, bis sich ihr Zustand wieder normalisierte. Dann stellte sie ihrer Begleiterin unzählige Fragen. Brönner, eine empathisch und gelassen wirkende Frau mit Kurzhaarschnitt und sanftem Händedruck, beantwortete sie in aller Ruhe. Zum Beispiel, wo der Angeklagte sitzen wird. „Sie hat mir alles erklärt“, sagt Sylvia. „Ich habe es anfangs nicht so recht geglaubt, aber das hilft tatsächlich. Sie hat mir die ganze Angst und Unsicherheit genommen.“ Brönner lächelt.

104 Zeugen hat sie in den vergangenen zwölfeinhalb Jahren vor Gericht begleitet. „Die Fälle sind unterschiedlich, die Menschen sind unterschiedlich – aber die Ängste sind immer gleich“, sagt sie. Die Zeugen treibt vor allem die Sorge um, sich in der Situation der Vernehmung nicht mehr erinnern zu können. Vor allem die nonverbale Unterstützung sei wichtig, sagt Brönner.

Im Fall um Sylvia mussten beide am Tag der Verhandlung mehr als eine Stunde vor dem Gerichtssaal warten. Als sich der Angeklagte drinnen in Rage redete und sich in Widersprüche verstrickte, wurde Sylvia draußen immer nervöser. Es war klar, die Vernehmung würde sich verzögern. „In solch einer Situation muss man einfach da sein, spüren und wahrnehmen“, sagt Brönner. Die Zeugenbegleiterin wird in diesem Minuten für ihren Gegenüber zu einem empathischen und beruhigenden Anker.

Eine Gerichtsverhandlung ist keine Therapiesitzung

Weil der Angeklagte am Ende dann doch noch gestand, Sylvia vergewaltigt zu haben, verzichtete die Richterin auf die Aussage des Opfers – ein Seltenheitsfall. In aller Regel müssen Opfer in der Gerichtsverhandlung die Tat noch einmal schildern. Und das kann für ohnehin geschundene, traumatisierte Seelen zur Qual werden. „Eine Gerichtsverhandlung ist keine Therapiesitzung für das Opfer“, sagt Richterin Bourgun, „wir müssen bis ins Detail gehen, um mögliche Widersprüche aufdecken und die Wahrheit herausfinden zu können. Es ist deshalb gut, wenn das Opfer durch die Zeugenbegleitung darauf vorbereitet ist.“

Sylvia entschied sich in einer Pause nach Rücksprache mit Brönner und Anwältin Arnold, in den Zuschauerraum zu sitzen und die Plädoyers sowie das Urteil im Saal zu verfolgen. Am Ende wurde der Täter zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt.

Eine Woche nach dem Prozess telefonierte Sylvia noch einmal mit Brönner, um den Vormittag in Nürtingen aufzuarbeiten. Und auch wenn Sylvia am Ende nicht aussagen musste, war die Zeugenbegleitung für sie ein „absoluter Gewinn“.