Die geschwungenen Holzverschalungen der Stuttgart-21-Baustelle sollen wiederverwertet werden, unter anderem für zwei Vorhaben im Landkreis Ludwigsburg.
Kritiker und Befürworter von Stuttgart 21 werden sich wahrscheinlich noch viele Jahre die Köpfe heiß reden über Sinn und Unsinn des Milliardenprojekts. Einig dürften sich aber die meisten zumindest in einem Punkt sein: dass die 28 Kelchstützen, die das neue Bahnhofsdach tragen, eine architektonische Perle sind. Spektakulär geschwungene Formen haben auch die Holzverschalungen, in die der Beton bei ihrem Bau eingelassen wurde. Einige dieser Hingucker könnten demnächst in Marbach zu bestaunen sein. Denn in der Schillerstadt erwägt man, aus den ausrangierten Teilen einen vor Regen und starker Sonneneinstrahlung geschützten Fahrradabstellplatz im Schulzentrum zu schaffen.
Dach in der Form eines Schmetterlings
Die Schalungen sollen zu einem schmetterlingsförmigen Dach zusammengefügt werden, das auf einem schlanken Stahltragwerk über den Stellplätzen schwebt. Rund 170 Räder könnten unter der Konstruktion aneinandergereiht werden, die auf dem Schulhof des Bildungszentrums installiert werden soll, heißt es in der Vorlage zur Sitzung des Ausschusses für Umwelt und Technik, der sich am Donnerstag mit dem Thema beschäftigen wird. Die Kosten werden auf circa 140 000 Euro geschätzt. Die Anlieferung der schweren Elemente würde durch das Ministerium für Ernährung und Ländlicher Raum Baden-Württemberg finanziert. Angestrebt wird, das Vorhaben rasch zu verwirklichen.
Teil eines größeren Versuchs
Holzschalungen von der Megabaustelle in der Landeshauptstadt dürften in nächster Zeit aber nicht nur in der Schillerstadt in neuer Funktion auftauchen. Das Ganze ist nämlich Teil eines großen Projekts mit dem Namen „Stuttgart 210 weiterdenken – weiterbauen!“, bei dem die Hochschulen Konstanz, Stuttgart und Karlsruhe, die Firma Züblin, das Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz sowie die proHolzBW GmbH mit im Boot sind. Dabei soll untersucht werden, wie die Elemente im Sinne der Nachhaltigkeit als hochwertige Baumaterialien wiederverwertet werden können. Es geht dabei um ein Potenzial von rund 5000 Kubikmetern Brettsperrholz, das sonst in Holzfaserdämmstoff umgewandelt oder thermisch verwertet würde. Es besteht die Möglichkeit, die einzelnen Teile je nach Bestimmungszweck zu kombinieren.
„Die Elemente sind jeweils einzigartige Bauteile aus blockverleimten Brettsperrholzelementen, die in einer Acht-Achs-Fräse gefertigt wurden und einen außerordentlichen Wert darstellen, der ansonsten für einen Fahrradunterstand unbezahlbar wäre“, erklärt Projektleiter Roman Kreuzer aus Konstanz. „Für Marbach ist angedacht, sogenannte Schwindgassenelemente zu verwenden, die zwischen den Kelchstützen eingesetzt waren“, fügt er hinzu. Das geschwungene Holz kam also in dem Bereich des Bahnhofsdachs zum Einsatz, der im Nachgang zu den Kelchstützen betoniert wurde.
Jugendtreff in Ingersheim mit Holz vom Stuttgarter Bahnhof
Vor Ort umgesetzt wurde bislang noch kein Vorhaben. Aber manches wurde schon angeleiert oder ist im Werden. Zum Beispiel soll in Stuttgart-Vaihingen das Circuleum von dem Projekt profitieren. Für das Zentrum für Artistik und Kunst könnte aus den Bauteilen eine Kuppel gezimmert werden. Die Stadt Mannheim habe sich ebenfalls Elemente gesichert, aus denen ein Multifunktionsraum entstehen könnte, erklärt Roman Kreuzer. Bereits fix ist, dass in Ingersheim ein Jugendtreff aus den Holzbauteilen gebaut wird, wie die Bürgermeisterin Simone Lehnert sagt. Die Elemente dafür seien bereits Ende 2023 geliefert worden. Sie seien zusammen mit dem Material eingelagert, das in Marbach eingesetzt werden soll.
Im Juli kämen im Rahmen eines internationalen Workshops rund 50 Studenten aus Indien, der Türkei und Deutschland nach Ingersheim, um das Pavillon zusammen aufzubauen. Die Konstruktion aus Holz solle zum Schutz vor Überschwemmungen auf einem kleinen Hügel und mit einem Betonsockel unterfüttert in der Nähe der Festwiese im Gebiet Fischerwörth am Neckar realisiert werden. „Die Jugendlichen sagen, sie haben keinen Ort, an dem sie sich treffen können. Das ist dafür der ideale Platz“, erklärt Lehnert. Hier, außerhalb des Zentrums, könnten die Kids auch mal etwas lauter sein, ohne jemanden zu stören. Selbstverständlich stehe das Pavillon anderen Generationen ebenfalls offen. Bei dem Gebäude handelt es sich also um kein klassisches Jugendhaus mit Sozialarbeitern, sondern um eine überdachte, unbeheizte Anlaufstelle für jedermann.
Der Clou ist für die Bürgermeisterin, dass der Treff aus einem hochwertigen Material gezimmert wird und die Gemeinde selbst dennoch vergleichsweise wenig Geld für das Projekt in die Hand nehmen muss. „Für das Holz müssen wir überhaupt nichts bezahlen, obwohl es rund 300 000 Euro wert ist“, sagt Simone Lehnert. Für die Umsetzung seien 40 000 Euro einkalkuliert, aber auch diese Summe werde beispielsweise dank der Mithilfe lokaler Betriebe wohl noch gedrückt werden können.
Wiederverwerten statt ausrangieren
Untersuchung
In der Regel werden Holzverschalungen, in die beim Bauen Beton gegossen wird, anschließend ausrangiert. Bei dem Pilotprojekt „Stuttgart 210: Weiterdenken – weiterbauen!“ soll untersucht werden, wie die Holzelemente möglichst unverändert wiederverwertet werden könnten. Konkret geht es um die Schalungen, die für die Kelchstützen am Bahnhofsdach verwendet worden waren.
Reallabore
Die original Drei-D-Fräsdateien der Schalungen wurden dem Forschungsprojekt zur Verfügung gestellt und im Maßstab 1 zu 50 dreidimensional ausgedruckt, um in Modellstudien auszuprobieren, was daraus alles gebaut werden könnte, welche Stücke zusammenpassen, welche womöglich einzeln verwendet werden könnten oder wo etwas abgesägt werden müsste. Die in dem Versuch entstandenen Ideen sollen vor Ort umgesetzt werden und heißen deshalb Reallabore.