Nur noch Gemüse, nie wieder Pommes: Wer seine Mahlzeiten zwanghaft in gut und böse einteilt, hat womöglich Orthorexie. Foto: dpa

Lebensmittelskandale und ständig neue Ernährungstipps verunsichern immer mehr Menschen. Manche beschäftigen sich so zwanghaft mit ihrem vermeintlich gesunden Speiseplan, dass sie krank davon werden.

Ingolstadt - Dinkelbrot, Vollkornnudeln, Salat, Bio-Äpfel: Klingt wunderbar gesund, und eigentlich ist es das auch. Wer aber derart auf Vollwertkost fixiert ist, dass er niemals ein Stück Pizza oder ein paar Pommes anrühren würde, übertreibt. „Wenn man bei der Ernährungsweise rigide ist und sich nur noch mit gesundem Essen beschäftigt, wird ein Problem daraus“, sagt Reinhard Pietrowsky, Professor für Psychologie an der Universität Düsseldorf. Experten sprechen bei solch zwanghaftem Verhalten von Orthorexia nervosa. Das Wort bedeutet so viel wie „krankhaftes Gesund-Essen“.

Bislang wird Orthorexie zwar offiziell noch nicht als eigenständige Krankheit definiert. „Im Zuge der Lebensmittelskandale und der allgemeinen Unsicherheit in Sachen Ernährung hat die Zahl der Betroffenen in den vergangenen Jahren aber stark zugenommen“, sagt Susanne Dornhofer, Leiterin der Indikationsgruppe Essstörungen an der Schön Klinik Starnberger See.

Experten gehen davon aus, dass ein bis zwei Prozent der Deutschen die typischen Verhaltensweisen von Orthorexie zeigen: Sie verbringen viel Zeit damit, Speisepläne auszuarbeiten und die vermeintlich richtigen Nahrungsmittel zu besorgen. Ob sie ihnen schmecken, spielt kaum eine Rolle. Und weil häufig nur noch wenige Nahrungsmittel den strengen Kriterien genügen, kommt es durch die vermutete Super-Diät nicht selten zur Mangelernährung. Beispielsweise, weil nur noch Obst gegessen wird. „Oft nehmen die Betroffenen auch keine Einladungen mehr an, weil sie dem misstrauen, was andere kochen, und begeben sich immer mehr in die soziale Isolation“, sagt Pietrowsky. Können Orthorektiker eine für sie ungesunde Mahlzeit nicht meiden, plagen sie hinterher nicht selten Schuldgefühle.

„Das Sendungsbewusstsein der Betroffenen ist sehr groß“

Aus eigenen Online-Befragungen weiß Pietrowsky, dass die meisten Orthorektiker eher jung sind, also bis 35 Jahre alt. Frauen seien nicht wesentlich häufiger betroffen als Männer. Wer ohnehin eine spezielle Art hat, sich zu ernähren, ist anfälliger: „Es hat sich gezeigt, dass Vegetarier und Veganer eine etwas höhere Wahrscheinlichkeit für Orthorexie haben als die Gesamtbevölkerung.“

Oft beginnt eine Orthorexie damit, dass Menschen mit einer bestimmten Ernährungsweise gute Erfahrungen machen: Sie haben dadurch abgenommen, fühlen sich fitter oder innerlich reiner. Vor diesem Hintergrund kann eine Diät zu einer Art Religion werden, zu der man auch die Umwelt bekehren will: „Das Sendungsbewusstsein der Betroffenen ist sehr groß“, sagt Ärztin Susanne Dornhofer. Typisch für Orthorektiker ist auch, dass sie stark zwischen „guten“ und „schlechten“ Lebensmitteln unterscheiden. „Die Betroffenen definieren gesundes Essen oft als Abwesenheit von Fett und Kohlenhydraten. Dabei braucht unser Körper auch diese Nährstoffe“, sagt Lisa Pecho, fachärztliche Expertin für Essstörungen bei der Beratungsstelle Anad.

Pecho findet es daher falsch, bestimmte Lebensmittel zu verteufeln. „Die Kampagne beginnt oft schon im Kindergarten“, sagt sie. Kinder lernten dort, „gutes“ von „schlechtem“ Essen zu unterscheiden. Süßigkeiten würden mitunter konsequent verbannt. „Wenn nicht mal am Geburtstag Kuchen mitgebracht werden darf, handelt es sich um ideologische Auswüchse“, sagt die Ärztin. Sinnvoller sei es, dass Kinder zum Beispiel durch gemeinsames Kochen ein besseres Gespür für ausgewogene Ernährung bekämen.

Betroffener will andere Themen abwehren

Aber meist steckt hinter einer krankhaften Orthorexie noch etwas anderes. „Wer sich so stark mit einem Thema beschäftigt, will oft andere Themen abwehren“, sagt Pecho. Das könnten zum Beispiel Ängste, Unsicherheiten, aber auch Wut sein. Dazu passt Dornhofers Beobachtung, dass Menschen mit einer zwanghaften Persönlichkeitsstruktur – das sind eher ängstliche und perfektionistische Zeitgenossen – besonders anfällig für die Störung sind. Verschlimmert sich ihre Situation, etwa durch Probleme in der Familie, kann ihr Essverhalten entgleisen: „Es ist beflügelnd für sie, dass sie immerhin diesen Bereich kontrollieren können, wenn sie sich in anderen Bereichen hilflos fühlen“, sagt Dornhofer.

Nur wenige Orthorektiker erkennen ihr Problem und lassen sich beraten oder behandeln. Schließlich sind sie in der Regel von ihrem Verhalten überzeugt. Pietrowsky sagt: „Die Personen meinen, dass mit ihnen alles in Ordnung ist, und zeigen kaum eine Krankheitseinsicht.“ Viele von ihnen kämen aber wegen anderer Probleme zum Arzt oder Psychotherapeuten.

Angehörige und Freunde können oft nur wenig tun, um einem Orthorektiker zu helfen. „Sie sollten den Betroffenen vorsichtig ermutigen, nicht so rigide zu sein und sich abwechslungsreicher zu ernähren“, sagt Pietrowsky. Und Pecho rät: „Wenn man eine vertrauensvolle Beziehung hat, sollte man die auffällige Beschäftigung mit dem Essen ruhig direkt ansprechen.“ Weniger Überwindung kostet es die Betroffenen ihrer Erfahrung nach, sich zunächst über eine professionelle Beratungsstelle Hilfe zu holen. „Sie denken dann nicht gleich, dass sie therapiebedürftig sind.“

www.anad.de