Wie zur Zeit der Römer in Jerusalem: Spielleiter Christian Stückl (rechts) probt mit Laiendarstellern die Geschichte von Jesu Tod und Auferstehung. Foto: dpa/Angelika Warmuth

Von den 5500 Einwohnern Oberammergaus macht rund ein Drittel mit in dem Theaterstück, das von Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi handelt. Was ist an der Geschichte heute aktuell?

In Oberammergau sieht man in diesen Tagen auffällig viele Männer mit langen Haaren und Bärten. Walter Rutz etwa, Geschäftsführer der Passionsspiele Oberammergau, trägt eine wallend weiß-gelockte Mähne und einen Zausel-Vollbart. Ein deutlicher Hinweis, dass die Passionsspiele nahen. Denn für alle, die bei diesem Spektakel mitspielen, gilt der so genannte Bart-Erlass. Sie dürfen sich nicht mehr rasieren und die Haare schneiden, damit sie auf der Bühne des Theaters möglichst so aussehen, wie man sich die Menschen im Zeitalter von Jesus Christus vorstellt. Für diese Passion, die am 14. Mai eröffnet wird, gilt das Verbot seit dem Aschermittwoch 2021. Da kommt eine Menge Wolle zusammen.

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Die Gemeinde in den bayerischen Alpen, 20 Kilometer nördlich von Garmisch-Partenkirchen gelegen, fiebert dem Schauspiel entgegen. Von den 5500 Einwohnern spielt rund ein Drittel mit in dem Theaterstück, das von Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi handelt. Diesmal sind es 1400 Erwachsene und 450 Kinder, die in ihrer Masse meist das Volk geben.

Oberammergau ist ein globales Spektakel

Die Passionsspiele finden nur alle zehn Jahre statt. Fast eine halbe Million Besucher kommen dann vom Eröffnungstag bis zum Ende am 2. Oktober nach Oberammergau – aus Bayern, aus Deutschland, aus der ganzen Welt. „Die englischsprachigen Länder sind immer ganz stark vertreten“, weiß der Geschäftsführer Rutz, „also Großbritannien und vor allem die USA.“ Oberammergau ist ein globales Spektakel mit religiösem Inhalt.

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„Dann ist es hier voll“, erinnert sich Andrea Hecht. Die Oberammergauerin spielt die Jesus-Mutter Maria. „Es ist ein ganz tolles Gefühl, wenn die Leute durch den Ort strömen, wie eine Welle.“ Man muss sich das so vorstellen: An den Tagen der insgesamt 104 Aufführungen ist in Oberammergau jedes Hotelbett belegt. Und jeder Platz in den Restaurants während der dreistündigen Pause für das Abendessen. Das Passionsspiel ist auch eine zeitliche Herausforderung: Die zwei Teile dauern von 14.30 Uhr bis 17 und von 20 bis 22.30 Uhr. Alle Hauptrollen sind mit zwei Schauspielern besetzt, denn einer allein könnte dieses Pensum nicht leisten.

Im Jahr 2020 kam Corona dazwischen

Nach dem Jahr 2010 war die Passion für 2020 vorgesehen. Doch Corona kam dazwischen. Der Lockdown wurde ausgerufen und das Passionsspiel um zwei Jahre verschoben, als eigentlich schon alles fertig war – die Szenen geprobt, die Musik geübt, die Kostüme geschneidert. Oberammergau war damals wie ausgestorben, und Andrea Hecht hatte gesagt: „Ich bin in einem verlorenen Zustand.“

Schon damals legte der Spielleiter Christian Stückl den neuen Termin fest: 14. Mai 2022, das schien unendlich lang hin. Stückl ist ein Vollblut-Theatermacher, 60 Jahre alt, gebürtiger Oberammergauer. Ein gestandenes bayerisches Mannsbild mit einem dementsprechenden Dialekt. In München betreibt er das Volkstheater, er hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten und leitet die Passionsspiele seit 1990.

Dieses Mal geht es dem Regisseur um Flüchtlinge und Arme

„Als ich vor zwei Jahren hier stand“, sagt er jetzt auf einer Pressekonferenz am Theater, „hatte ich Tränen in den Augen.“ Jetzt freut er sich und meint: „Alle hat nun das Passionsfieber gepackt, alle ziehen an einem Strang.“ Stückl, der sowieso immer lange Haare und einen Bart trägt, berichtet, wie sich die Inszenierung in den vergangenen zwei Jahren verändert hat, wie er derzeit auf diesen Mann aus Nazareth blickt: „Jesus verzweifelt manchmal an der Welt.“

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Dieses Mal geht es dem Regisseur vor allem um Flüchtlinge und Arme. „Die kommen sehr viel in den Heiligen Schriften vor.“ Den Text kann Stückl ändern, wie er möchte, und macht das auch. Im Gegensatz zu früheren Zeiten redet ihm niemand von der Gemeinde oder der katholischen Kirche rein.

Religiöse Vorgaben gibt es für die Schauspieler nicht

Religiöse Vorgaben gibt es für die Schauspieler nicht mehr. Jeder, der in Oberammergau geboren wurde oder seit 20 Jahren dort leben, darf mitspielen. „Wir haben auch Muslime dabei“, erzählt Stückl. Er selbst hat einen durchaus kritischen Blick auf die Religion und Kirche: „Das Katholische steckt in einem drin, ob du das willst oder nicht.“ Er sei ein „Zweifler“, manchmal glaube er an die Auferstehung, manchmal denke er: „Vielleicht ist am nächsten Tag doch einfach nur die Kiste zu.“

Wegen der Corona-Entwicklung und des Ukraine-Kriegs gibt es in diesem Jahr viele Unwägbarkeiten. Die Schauspieler testen sich täglich, doch für die maximal 4400 Theaterbesucher gibt es keine Beschränkungen wie etwa Masken- oder Testpflicht. Bisher liegen die Buchungen bei 75 Prozent, es gibt also noch Karten zum Preis von 30 bis 180 Euro, teils wird ein Rabatt für Schüler, Studenten und Schwerbehinderte gewährt.

Spiele als Dank für die überstandene Pest

Gelübde
 Im Jahr 1633 fielen 80 Dorfbewohner von Oberammergau der Pest zum Opfer. Als die Seuche von dem Ort abließ, lösten die Bürger ein Gelübde ein: Seit dem Jahr 1634 führen sie als Dank alle zehn Jahre die Passionsspiele auf. Dieses Jahr geschieht dies zum 42. Mal.

Europa
 Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit waren Passionsspiele im christlichen Europa weit verbreitet. Oberammergau ist das weltweit bekannteste noch existierende Spektakel dieser Art.