Foto: TVA, Glaser

Oberammergau ist fast so berühmt wie Las Vegas. 2010 ist in dem Passionsspielort wieder die Hölle los.

Wer mit Markus Gerum verabredet ist, muss mit allem rechnen. Heute hat er Fledermauskot mitgebracht. Als Naturguide liebt der 43-Jährige alles, was kreucht und fleucht. Auch die Kinder haben keine Berührungsängste. "Sieht doch aus wie Lakritze", sagt der siebenjährige Veith und untersucht die Bröckchen. Was da glitzert, erklärt Markus, sind unverdaute Reste von Chitinpanzern. Schließlich frisst die Fledermaus Käfer, Mücken und Schmetterlinge, Tiere mit viel unverdaulichem Chitin im Außenskelett.

Noch sind keine fünf Minuten vergangen, und wir haben schon jede Menge gelernt. Zum Beispiel, dass wir bei unserer abendlichen Fledermauspirsch zuerst auf den Boden schauen rund ums Haus. Wenn sich dort kleine, schwarze Hinterlassenschaften zeigen, sind die Chancen gut, dass weiter oben, hinter dem Windfang der alten Bauernhäuser, fliegende Untermieter hausen. Inzwischen ist es fast dunkel, und wir sind unterwegs zum Brozenweiher.

Wer jetzt zum dämmrigen Nachthimmel hinaufschaut, kann die pfeilschnellen Zwergfledermäuse wie dunkle Blitze umherjagen sehen. Markus hat nicht nur einen Batdetektor dabei, der die Ultraschallrufe der kleinen Jäger hörbar macht, sondern auch ein echtes Exemplar, das sich streicheln lässt. Till ist begeistert: "Die ist ja echt! Wo gibt’s denn so was zu kaufen?" Nirgendwo, sagt Markus lachend. Die muss man schon selbst finden.

Die nächtliche Fledermausexpedition ist ein voller Erfolg, und wir beschließen spontan, für den nächsten Tag bei Markus auch das "Ammer-Abenteuer" zu buchen. Auf den flachen Kiesbänken bei der Bärenhöhle wird er uns zeigen, was in dem sauberen Fluss unter den Steinen lebt, von der Eintagsfliegenlarve bis zur Groppe, einem perfekt getarnten Winzling von Fisch. Markus wird Kescher, Lupen, Pinsel und Becher mitbringen, wir kümmern uns um das Picknick.

Der erste Blick jeden Morgen geht hinüber zum Kofelmassiv, dem Oberammergauer Hausberg, wo an den Felsflanken die letzten Nebelschleier tanzen. Wir radeln rund um den Soiener See, wandern zu den Schleierfällen oder auf dem Walderlebnispfad durch das Biotop der Ludwigschlucht in Bad Kohlgrub. Machen Brotzeit oben auf dem Laberberg mit einem Fernblick wie ein Kolossalgemälde. Sauber aufgestellt grüßt die Alpenkette: Wilder Kaiser, Karwendel, Wetterstein, Allgäuer Alpen bis hin zu den Seen wie Ammersee und Staffelsee.

Auch für den letzten Rundumblick am Abend haben wir einen Lieblingsplatz: Osterbichl heißt die Anhöhe und war mal weltberühmt durch die gewaltige Kreuzigungsgruppe, die der Märchenkönig Ludwig II. seinen Oberammergauern zum Geschenk machte. Noch heute kennt hier jedes Kind die Geschichte der gewaltigen Steinskulptur, die lange Zeit die größte der Welt war: Wie man 1875 das Atelier einreißen musste, um das fertige Denkmal herauszuschaffen, wie man das Marmormonstrum mit 27 Pferden auf den Osterbichl schleppte und wie dort der 200-Zentner-Johannes aus dem Gleichgewicht geriet und den Steinmetz und seinen Gesellen zerquetschte. Ludwig II. kam alle Jahre wieder an diesen Ort.

Das ist heute noch so, obwohl der König seit 123 Jahren tot ist. Egal, wer in München das Sagen hat, die Ammergauer Alpen bleiben königstreu, und der größte Festtag der Region ist das Ludwigsfeuer am Vorabend des königlichen Geburtstags. Jedes Jahr in der Nacht auf den 25. August brennen auf den Gipfeln gewaltige Freudenfeuer, und auf abschüssigen Wiesen hoch oben am Hang trompeten bei jedem Wetter Musiker königstreue Weisen.

Abenteuer an der Ammer

Unsere Wirtin Annemarie Gerold findet trotz all der Arbeit als Bäuerin mit Kühen, Kälbern und Geißen genügend Zeit für einen Gang in ihren Kräutergarten, bei dem sie uns zeigt, was man mit Unkraut alles machen kann: nicht ärgern, essen! Als eines der Kinder von einer Bremse gestochen wird, pflückt sie Schachtelhalm, drückt ein paar Tropfen aus dem Stängel auf den Stich, und schon schmerzt er nicht mehr.

Auch Nicola Förg, erfolgreiche Krimiautorin mit derzeit 19 Titeln im Laden, nimmt sich alle Zeit der Welt, um mit den Fans zu plaudern, die sich zu ihrem verwunschenen Gehöft durchfragen, ein 400 Jahre altes Bauernhaus mit wildem Garten und weitem Blick, wo sie mit Mann, Pferden und jeder Menge Katzen lebt. Den ganzen Sommer über ist sie jede Woche einmal mit Urlauberkindern und deren Eltern unterwegs – per Pferdetrekking mit ihren vier Lieblingen Falco, Fjölla, Vicki und Fenja.

Wer die große handwerkliche Tradition abseits der Nippesindustrie sucht, ist im Oberammergau-Museum an der ersten Adresse. Der heilige Sebastian zeigt dort seine groteske Märtyrer-Performance, und auch der Schnürlkasper ist da, an dem Generationen von Kindern zogen und rissen. Im Erdgeschoss findet man eine faszinierende Sammlung von Krippen.

Die Passion ist das Event, das Oberammergau weltweit berühmt gemacht hat. Denn Jesus hängt hier nicht nur in jedem Klassenzimmer und als Marterl auf jeder Almwiese, hier wird er auch seit 1634 alle zehn Jahre live ans Kreuz geschlagen. Das begann zu einer Zeit, als ein Drittel der damals lebenden Menschheit an der Pest starb. Viele Dörfer wollten daher mit der Darstellung der Leiden Christi den Horror bannen – in Oberammergau soll das Gelübde gewirkt haben. 2010 ist’s wieder so weit, eine halbe Million Zuschauer werden aus aller Welt kommen, die Nachfrage ist doppelt so groß.

Mitwirken darf übrigens nur, wer in Oberammergau geboren ist oder seit 20 Jahren dort lebt. Für 2010 haben sich 1834 Erwachsene und 638 Kinder gemeldet, das ist das halbe Dorf. "Christen, Atheisten, Muslime, alle sind dabei", sagt Regisseur Christian Stückl. Trotzdem, aussehen sollen die Mitwirkenden schon so wie zu Lebzeiten Jesu. Deshalb heißt es seit Aschermittwoch 2009 für alle Teilnehmer: Finger weg von Schere und Rasierer – bis 2010 muss die Haarpracht ungehemmt wachsen. Der Oberammergauer Markus Gerum aber ist immer noch glatt rasiert auf den Spuren von Biber, Fledermaus und Groppe unterwegs. Will er sich drücken? "Ich bin beim Kulissenbau dabei", erklärt er, "und dafür darf ich bleiben, wie ich bin."

Info: Kloster Ettal: Benediktinerkloster mit bedeutender Rokokokirche, Brauerei und Brauereimuseum (http://www.kloster-ettal.de). Daneben befindet sich eine Schaukäserei (http://www.milch-und-kas.de).

Natur erleben: Ob Nachtwanderungen, Flussabenteuer oder Biberpirsch, mit dem Biologen Markus Gerum wird alles zum Abenteuer: Telefon 0 88 22/94 56 57, http://www.naturerlebnis-ammertal.de.

Passion: Führungen durch das Passionstheater dienstags bis sonntags halbstündlich, geöffnet 10 bis 17 Uhr. Telefon 0 88 22/9 45 88 33. Karten und Auskünfte zu den Passionsspielen unter Telefon 0 88 22/92 31 0, http://www.passionsspiele2010.de.

Allgemeine Auskünfte: Tourist Information Ammergauer Alpen, Telefon 0 88 22/92 27 40, http://www.oberammergau.de, http://www.ammergauer-alpen.de.