Auch als Werk zu sehen: Wendelin Niedlich vor seiner Buchhandlung Foto:  

In „Wanted: Wendelin Niedlich!“ kann man fast alle bekannten und viele weniger bekannten deutschsprachigen Autoren von den sechziger bis zu den neunziger Jahren finden.

Stuttgart - Neunzig Jahre alt ist der Stuttgarter Buchhändler Wendelin Niedlich 2017 geworden – und zumindest für die älteren Zeitgenossen in der Stadt immer noch eine Institution, auch wenn es seine Buchhandlung schon seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gibt. Als jetzt im Stuttgarter Literaturhaus die Ausstellung „Wanted: Wendelin Niedlich!“ eröffnet wurde, fühlte man sich deshalb wie auf einem Familientreffen, wo alle, die ihn gekannt haben, noch einmal zusammengekommen waren. Nur der Jubilar selbst fehlte, und das war wahrscheinlich gut so, denn ein Abwesender lässt sich viel leichter als Projektionsfläche, als Objekt einer unbestimmten Sehnsucht aufbauen. Bei der Vernissage zur Ausstellung, die aus einem Film und einem Gespräch mit Zeitzeugen bestand, konnte sich so jeder aus den unterschiedlichen Perspektiven auf dieses Sehnsuchtsobjekt sein ganz eigenes Bild von Niedlich entwerfen.

Die Ausstellung, bereits die zweite zu diesem Thema im Literaturhaus nach einer 2005 vom Literaturkritiker Helmut Böttiger gestalteten Schau, war diesmal von Heike Gfrereis zusammengestellt worden, der derzeit beurlaubten Leiterin der Marbacher Literaturmuseen. Gfrereis konnte in Niedlichs Wohnung in der Reinsburgstraße die dort gesammelten Materialien aus fast vierzig Jahren Buchhändlerleben einsehen und daraus eine Auswahl treffen. Den Schwerpunkt der Schau bilden Hunderte von Fotos, die Niedlich jeweils vor und nach einer Autorenlesung mit seiner Polaroid- Kamera von den Gästen in seinem Buchladen gemacht hat.

Aus der „Stuttgarter Schule“

Man kann dort fast alle bekannten und weniger bekannten deutschsprachigen Autoren von den sechziger bis zu den neunziger Jahren finden. Neben den Schriftstellern aus der „Stuttgarter Schule“ um Max Bense wie Reinhard Döhl, Marlis Gerhardt, Helmut Heißenbüttel und Friederike Roth, die Niedlich besonders förderte, umfasst diese Autorengalerie Peter Hamm und Peter Sloterdijk, Friederike Mayröcker und Gisela von Wisocki, Walter Jens und Ivan Nagel, Elfriede Jelinek und Herta Müller, Volker Klotz und Heinz Schlaffer, um nur die bekanntesten zu nennen.

Den zweiten Schwerpunkt der Ausstellung bilden Plakate aus Niedlichs Buchhandlung. Sie zeigen einmal den Kunstliebhaber und dessen Interesse an moderner Druckgrafik, aber auch den politisch engagierten Buchhändler, etwa wenn auf Plakaten zu Demonstrationen am 1. Mai aufgerufen wird. Denn das war ja das Spezifische und Einmalige an Niedlichs intellektuellem Kosmos: die Verbindung von linker Politik und radikal avantgardistischer Ästhetik, von konkreter Poesie und kritischer Theorie, Max Bense und Theodor W. Adorno. Seine literarischen Hausgötter waren James Joyce, Marcel Proust und Robert Walser, seine Künstlerfreunde Jan Peter Tripp und Friedrich Meckseper. Gfrereis hat die Objekte in den Räumen des Literaturhauses so arrangiert, dass ihre Anordnung das Chaos nachempfindet, das nach der Erinnerung vieler Zeitzeugen in Niedlichs Buchhandlung geherrscht hat – ein Arrangement, das dem Betrachter einige Anstrengung abverlangt.

Pure Schlamperei!

War das Chaos Absicht oder Schlamperei? Über diese Frage kam es zu einem heftigen Schlagabtausch zwischen der Literaturwissenschaftlerin Hannelore Schlaffer und dem Künstler Jan Peter Tripp, die zusammen mit dem ehemaligen Stuttgarter und heutigen Esslinger Schauspieldirektor Friedrich Schirmer auf dem Podium des Literaturhauses das Phänomen Niedlich ergründen sollten. Schlaffer vertrat die These, die sie auch schon in ihrem Geburtstagsartikel in dieser Zeitung vorgetragen hat, dass Niedlichs Stil mit seiner Mischung aus Boheme und Avantgarde gerade in den Jahren nach 1968 eine bewusst und raffiniert kalkulierte Provokation des selbstzufriedenen Stuttgarter Bildungsbürgertums dargestellt habe. Die Buchhandlung in der Schmalen Straße mit ihren Bücherstapeln, die scheinbar keiner systematischen Ordnung gehorchten, sei eine Art Gesamtkunstwerk gewesen. Jan Peter Tripp dagegen, der acht Jahre zusammen mit Niedlich in einer Wohnung gelebt hat, winkte ab: das sei pure Schlamperei gewesen, eine „hochqualifizierte Müllhalde“, in Niedlichs Wohnung habe es genauso ausgesehen.

Schlampig, um es vorsichtig auszudrücken, scheint auch Niedlichs Umgang mit Geld gewesen zu sein. In einem Dokumentarfilm, den Horst Brandstätter und Dietrich Lehmstedt 1990 für den damaligen Süddeutschen Rundfunk gedreht haben, loben die Verleger Michael Krüger, Klaus Wagenbach und Joachim Unseld den Stuttgarter Buchhändler zwar in den höchsten Tönen. Beim Blick in ihre Geschäftsbücher dürften sie freilich weniger erfreut gewesen sein, denn Wendelin Niedlich handelte nach dem Motto: Bezahlt wird später. Oder gar nicht, denn die Autoren, die bei Niedlich zu Gast waren, erhielten kein Honorar und mussten sogar für ihre Reisekosten selbst aufkommen. Niedlich habe eben den Beruf verfehlt, sei ein Liebhaber von Büchern gewesen, kein Händler, meinte Friedrich Schirmer. .