Alljährlich finden in Brasilien Gedenkveranstaltungen für die Opfer des Dammbruchs von Brumadinho statt. Foto: imago//Roberto Casimiro

Vor fünf Jahren ist ein vom TÜV zertifizierter Staudamm in Brasilien gebrochen. Noch immer warten Überlebende und Hinterbliebene auf eine Entschädigung. Doch nun keimt Hoffnung

Es dauert 17 Minuten lang, bis die Namen aller 272 Toten verlesen sind. Die drei aus Brasilien angereisten Überlebenden und Angehörigen von Opfern lösen sich dabei vor der Firmenzentrale des TÜV ab. „Jetzt kommt der Name meiner Frau“, sagt Saulo Rodrigues e Silva mit stockender Stimme.

Zum fünften Jahrestag eines verheerenden Staudammbruchs in der brasilianischen Gemeinde Brumadinho ist das Trio mit seinen Anwälten zum Protest vor den Toren des TÜV Süd erschienen. Eine TÜV-Tochter in Brasilien hatte den Damm kurz vor dessen Kollaps sicherheitszertifiziert. 272 Menschen waren dann am 25. Januar 2019 in giftigen Schlammfluten ums Leben gekommen. Überlebende und Angehörige verklagen die Prüforganisation deshalb vor einem Münchner Gericht auf Schadenersatz.

Brasilianisches Recht erlaubt hohe Klagesummen

Die Sache ist zäh. Aber nun wittern die Kläger Morgenluft. „Wir haben einen Durchbruch erzielt“, sagt Klägeranwalt Erik Spangenberg: Das Landgericht München, wo der Fall verhandelt wird, hat nun einen Gutachter für brasilianisches Recht bestellt und ihm einen umfangreichen Fragenkatalog vorgelegt. „Damit ist jetzt klar, dass brasilianisches Recht angewendet wird“, betont der Anwalt. Das hatte der TÜV stets verhindern wollen. Brasilianisches Umweltrecht erlaubt hohe Klagesummen.

Spangenbergs Kanzlei und die seines britischen Kollegen Guy Robson vertritt mittlerweile 1402 Einzelkläger und zwei betroffene Gemeinden. Sie fordern in der Summe 582 Millionen Euro Schadenersatz vom TÜV. Damit wurde die Klage nun um rund 300 Kläger und knapp 140 Millionen Euro aufgestockt. Umweltschäden sind darin nicht enthalten. „Die kann man noch nicht beziffern“, erklärt Spangenberg.

Finanzielle Entschädigung sei ohnehin nicht alles, sagt Karine Naiara Silva Carneiro Andrade. Die Ehefrau ihres Mitklägers Silva war ihre Schwester. Kein TÜV-Vertreter sei zu ihrem Protest vor der Konzernzentrale erschienen, um an sie wenigstens Worte des Bedauerns zu richten, kritisiert die junge Frau. „Man hat uns die kalte Schulter gezeigt“, bedauert Andrade. Sie und ihre Familie hätten dagegen immer noch mit den Folgen der Katastrophe zu kämpfen.

„Der TÜV soll sich seiner Verantwortung stellen“

Mit seinem Sicherheitszertifikat habe der TÜV die Opfer der Katastrophe in falscher Sicherheit gewiegt, findet Andrade. Dafür müsse er gerade stehen. Mitklägerin Iasmin Maria Maciel erzählt von anhaltenden Angstattacken und psychologischer Hilfe, die sie benötige. Beim Dammbruch habe sie ihren Lebensgefährten verloren und sei selbst nur knapp mit dem Leben davon gekommen. „Ich war genau da, wo es passiert ist“, erzählt die Brasilianerin. Der TÜV müsse sich endlich seiner Verantwortung stellen.

Doch die Prüforganisation weist alle Vorwürfe zurück. Zum einen sei der Damm nicht wider besseren Wissens, sondern regelkonform zertifiziert worden, sagen Anwälte der Prüforganisation. Zum anderen könne man die Münchner Mutter nicht für eventuelle Verfehlungen einer brasilianischen Tochter regresspflichtig machen. Im aktuellen Geschäftsbericht liest sich das weniger eindeutig. Dort ist von nicht abschließend quantifizierbaren Rechtsrisiken die Rede. Dies könne „zu erheblichen finanziellen Belastungen für TÜV Süd Brasil sowie gegebenenfalls auch die TÜV Süd AG führen und erhebliche Auswirkungen“ haben, wird dort gewarnt. Zudem drohten Reputationsverluste.

Die Hoffnungen der Kläger ruhen indessen auf dem Landgericht München. „Es gibt auch viele Klagen in Brasilien, aber wir vertrauen dem deutschen Gericht mehr“, sagt Andrade. Auch in Deutschland mahlen die Mühlen der Justiz aber gemächlich. Anwalt Spangenberg schätzt, dass der Gutachter frühestens im kommenden Herbst gehört wird. Ein Urteil erwartet er irgendwann 2025. Das wäre dann auch nur die erste Instanz.

In Brasilien seien einzelne Urteile gegen Vale und damit den Betreiber einer zum Staudamm gehörenden Mine gefällt worden, erzählt Klägeranwalt Robson. Geflossen seien aber erst minimale Summen von etwa 25 000 Euro für einzelne Kläger. Gemessen an dem, was in München vom TÜV gefordert wird, seien bisher gezahlte Entschädigungen verschwindend gering, betont Spangenberg. Was auf den TÜV bei einem Schuldspruch insgesamt zukommen könnte, ist wegen der offenen Umweltschäden unklar.

Dem Unglück von 2019 ging schon eines voraus

Aus heiterem Himmel kam die Katastrophe nicht. Schon 2015 war in Brasilien ein ähnlicher Minenstaudamm gebrochen. Auch dessen Opfer vertritt Robsons Kanzlei bei Schadenersatzprozessen in London. Nach dem Unglück 2015 hätten alle geschworen, dafür zu sorgen, dass so etwas nicht wieder passiert. 2019 aber wiederholte sich die Geschichte gemessen an der Zahl der Toten auf noch fatalere Weise. „Der TÜV kann sich nicht ewig verstecken“, meint Robson und verlangt endlich ein Entgegenkommen. Auf Vergleichsvorschläge des Gerichts hat die Prüforganisation bis heute nicht reagiert.

Voraussichtlich treffen die Kontrahenten im Lauf dieses Jahres in München vor Gericht wieder aufeinander. „Wir wollen nicht zum sechsten Jahrestag wieder hier sein“, hofft Robson. Das könnte sich freilich als frommer Wunsch erweisen.