Ehrenamtlich ist Ramona Kulhanek seit Dienstag mit dem elektroangetriebenen Seniorentaxi unterwegs. Foto: Ralf Poller/avant/i

Die Gemeinde Murr nutzt das Angebot des Dienstleisters deer, um ältere Mitbürger etwa zum Arzt oder zum Einkaufen zu fahren – was sonst ein Bürgerbus täte.

Murr - Aufmerksam betrachtet Ramona Kulhanek die Kotflügel des weißen Wagens. „Keine Schäden“, sagt die ehrenamtliche Fahrerin des Murrer Seniorentaxis und koppelt das Auto von der Stromladesäule an der Mühlgasse ab. Es ist 9.20 Uhr, gleich startet die 60-Jährige zur ersten Fahrt. „Ich bringe eine Frau zum Physiotherapeuten nach Steinheim.“

Eine einfache Fahrt kostet die Nutzer nur einen Euro

Aufgeregt vor ihrem allerersten Einsatz ist Ramona Kulhanek nicht. Die Beraterin in der Finanzbranche wirkt lebenserfahren. Den Stromanschluss hat sie mit dem zweiten Fahrer Martin Blank schnell bewältigt. Die Murrerin arbeitet in Teilzeit und engagiert sich ehrenamtlich außer bei diesem Projekt dienstags von 9 bis 11 Uhr auch noch in der Schuldnerberatung der Diakonie in Bietigheim-Bissingen. Im vorigen September habe sie von dem Plan der Gemeinde erfahren, ältere Bürger zum Arzt bis nach Marbach oder zum Einkaufen ins nahe Steinheim zu befördern – für die Nutzer zum Schnäppchenpreis von einem Euro pro Fahrt, also zwei Euro für Hin- und Rückfahrt. Den Rest der Nutzungsgebühr von 6,50  Euro pro Stunde finanziert die Sozialstiftung der Kommune.

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Das Besondere an dem Seniorentaxi liegt in dem Antrieb. Es sind E-Fahrzeuge der Firma deer. Die Gemeinde hatte vor etwa einem Jahr das E-Carsharing der 100-prozentigen Tochter der Energie Calw (EnCW) mit einem Wagen im Ort eingeführt. Jetzt nimmt Sylvia Notter, die Sekretärin des Bürgermeisters, telefonische Anmeldungen entgegen – immer bis 8.30 Uhr des Vortags, immer für den Dienstag und den Donnerstag von 9 bis 11  Uhr. Und: „Wir sind schon für den gesamten Februar ausgebucht.“

Im Februar fahren die Kunden noch zum Nulltarif

Mit dem Andrang hat der Murrer Rathauschef Torsten Bartzsch aber gerechnet, nicht nur, weil er die große Nachfrage nach Mobilität von Älteren aus Gesprächen kenne und das Seniorentaxi im Februar noch zum Nulltarif fahre. Bartzsch sieht den Februar als Testphase. „Wir können das E-Carsharing bei Bedarf ausbauen.“ Die Firma deer könne nämlich noch weitere Fahrzeuge am Standort aufbieten. Das biete sich an, wenn die Nachfrage nach dem E-Carsharing insgesamt steige.

Taxi-Unternehmen hatten laut Bartzsch keine Kapazitäten frei

Ursprünglich hatte die Gemeinde laut Bartzsch überlegt, mit einem Bürgerbus zu agieren, doch das Seniorentaxi mit dem deer-Wagen biete die Chance, erst einmal klein anzufangen. „Wir hatten auch bei Taxi-Unternehmen in Marbach und im Bottwartal nachgefragt, dort gab es jedoch keine Kapazitäten für solche Fahrten“, erklärt Torsten Bartzsch. Die Sozialstiftung hätte die höheren Preise für ein Taxi mitgetragen, aber die jetzige Lösung biete neben den finanziellen auch ökologische Vorteile.

Der E-Carsharing-Anbieter eröffnete im Januar sechs neue Stationen

Erfreut über die soziale Dimension des E-Carsharings in Murr äußert sich Andree Stimmer, Marketingleiter der Energie Calw. „Es ist meines Wissens das erste Mal, dass wir in einem solchen Projekt eingebunden sind.“ Stimmer weiß von Komplettnutzungen einzelner deer-Wagen etwa durch die Diakoniestation in Calw. „Es ist begrüßenswert, wenn wir in den Orten Mobilität ermöglichen.“ Dies sei ja auch die Geschäftsidee, mit der man derzeit erfolgreich expandiere. So habe deer erst im Januar sechs neue Ladestationen in Baden-Württemberg eröffnet. Insgesamt unterhalte die EnCW-Tochter rund 200 Wagen an 150 Standorten.

Das Unternehmen kann Standorte mit Wagen nachrüsten

Das Vorgehen der Sozialstiftung Murr, einzelne Zeitfenster in der Woche für das Seniorentaxi zu reservieren, nennt Andree Stimmer „Anker-Miete“. In einem solchen Fall könnten andere Kunden den deer-Wagen nicht nutzen. Das sei aber nicht weiter problematisch, denn das Unternehmen könne bei weiterem Bedarf seine Standorte mit zusätzlichen Wagen ausrüsten: „Wir sind da auf jeden Fall gesprächsbereit.“

Auch Einfachfahrten sind in dem Konzept möglich

Ein Vorteil des deer-Konzepts besteht in der Möglichkeit, eine einfache Fahrt ohne Rückfahrt anzutreten. Notfalls bringen die Mitarbeiter nachts auch einen benötigten Wagen zum Standort. Einfachfahrten sind auch mit dem Seniorentaxi möglich. Wenn etwa ein Arzttermin dauert, können die Dienstagfahrerin Ramona Kulhanek und ihr donnerstags tätiger Kollege Martin Blank in der Zwischenzeit weiterfahren. Oder aber gar nicht erst zum Patienten zurückfahren, wenn der jemanden hat, der ihn abholt.

Eine Begleitperson darf kostenlos mitfahren

Kostenlos mitfahren darf übrigens immer eine Begleitperson. Und nicht nur für Senioren, sondern auch für Verletzte oder Gehbehinderte möchte die Murrer Sozialstiftung die Mobilität verbessern. Ramona Kulhanek hofft, dass noch weitere Ehrenamtliche solche Seniorenfahrten übernehmen. „Es wäre schön, wenn wir in Murr das Angebot langfristig ausbauen könnten.“