Nach drei Jahren pandemiebedingter Zwangspause hat das diesjährige Gastland Österreich der Leipziger Buchmesse zu einer strahlenden Wiedergeburt verholfen. Doch in die euphorische Stimmung mischen sich auch ernste Töne.
Keine Ahnung wie es bei Ihnen ist, aber bei mir herrscht tiefe Nacht.“ Mit diesen dunklen Worten hebt eine rätselhafte Suada an, halb Volkslied, halb Beschwörung, halb Sprache, halb Musik. Wer nun einwendet, mehr als zwei Halbe geht nicht, der unterschätzt die Mehrwertproduktion österreichischer Sprachkunst, wie sie die Wiener Performancepriesterin Franziska Füchsl zu Beginn der diesjährigen Leipziger Buchmesse zelebriert. Am Ende ihres Vortrags oder eher Offiziums zieht nach dreijähriger pandemiebedingter Nacht ein neuer Tag über dem Messegeländes auf. Österreich ist das Gastland des Frühlingserwachens in der sächsischen Buchmetropole. „Meaoiswiamia“ hat es als Motto gewählt, und auch das klingt zunächst wie ein Zauberspruch, wie überhaupt selten ein Land mit seinem Auftritt so bezirzt haben mag.
Das fängt mit dem Bundespräsidenten Alexander van der Bellen an, der die floskelstarren Sonntagsredenstafetten, die zu jeder Eröffnungsfeier gehören, mit geradezu anarchistischer Heiterkeit auftaut, indem er die jedem Österreicher gewissermaßen in die Wiege gelegte Anderthalbsprachigkeit mit Beispielen aus seiner Kaunertaler Heimat belegt – schon ein paar Täler weiter wären sie vollkommen unverständlich. Ob es daran liegt, dass das kleine Land mehr große Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgebracht hat, als ihm statistisch gesehen eigentlich zustehen würden? Mehr als zweihundert davon bevölkern die Bühnen der Stadt. Und als der Vorarlberger Autor Michael Köhlmeier auf einer davon gefragt wird, wie es denn sei, hier in Sachsen so von der eigenen Sprache umgeben zu sein, antwortet er: „Wie daheim, da hör’ ich sie auch immer“.
Krieg in der Sprache
Von Karl Kraus stammt der Satz: „Was uns vom Deutschen trennt, ist die gemeinsame Sprache.“ Damit ist es vielleicht an der Zeit, „meaoiswiamia“ in van der Bellens Worten „nach der Schrift“ zu übersetzen: Mehr als wie mir. Das führt zu der russischen, mittlerweile im Berliner Exil lebenden Lyrikerin Maria Stepanova. Zum Auftakt der Messe wird ihr der Preis für Europäische Verständigung verliehen. In ihrer Dankesrede setzt sie sich damit auseinander, was es bedeutet, in einer Sprache zu schreiben, die zum Instrument von Hass, Gewalt und Tod geworden ist. Sie zieht Fäden zur Dichtung Paul Celans – doch ob ihre Hoffnung, ein Gedicht könne selbst in dunkelsten Zeiten mit einem Händedruck beantwortet werden, überall auf offene Ohren stößt?
Am Stand der Ukraine liegen weißgestrichene Trümmerteile von Stühlen und Regalen im Eck. Sie stammen aus zerbombten Bibliotheken aus Kiew und Tscherkassy. Und während hier Vertreter des Landes auf die gezielte Auslöschung ihrer Kultur durch russische Bomben aufmerksam machen, liefern sich wenige Meter weiter der Historiker Gerd Köhnen und der Publizist Harald Welzer einen heftigen Wortwechsel über die Frage, ob die von Köhnen unterstützten Waffenlieferungen oder deren von Welzer geforderter sofortiger Stopp ein Ende des Kriegs näher rücken lassen. So unversöhnlich weit die Positionen auseinanderliegen, wird auch dieser Streit noch lange dauern.
Niederschwellige Lockmittel
Trotz dieser Töne herrscht in den Hallen eine gelöste, geradezu euphorische Stimmung. Und zu den bemerkenswerten hier zu besichtigenden Sprachhandlungen zählt auch der verbale Wiedersehensfreudentusch, mit dem der Messe-Chef Oliver Zille jede seiner zahlreichen Reden beginnt. Kein Wunder, stand nach drei abgesagten Messen deren Zukunft zeitweise in den Sternen.
Nun scheint die Sonne mild auf das bunte Völkchen, das sich unter dem Dach der eindrucksvollen Glashalle tummelt, alle Arten von Buchinteressierten, darunter Eisbären, gestiefelte Kater, leibhaftig animierte Manga-Figuren. Eine giftgrüne Gestalt mit komischen Ohren bummelt an der Seite eines kecken Wesens mit braunem Überwurf und Schirmmütze durch die Gänge: Shrek und Ranpo, so ihre Namen, entpuppen sich als Mutter und Tochter. „Es macht einfach Spaß, in die Rollen seiner Idole zu schlüpfen, sagt Ranpo, die jüngere. Sie sind dem Cosplay-Kosmos entsprungen, jener aus Japan stammenden, grenzüberschreitenden Verkleidungskunst zwischen Fantasy und Wirklichkeit. Die Manga-Comic-Con ist eines der niederschwelligeren Angebote der Leipziger Messe. Und auch wenn in Halle eins, wo sie ihren Mittelpunkt hat, wenig an Leseförderung erinnert, vieles dagegen an ein Plüsch-, Perücken- und Daddel-Universum, finden sich viele Kostümierte auch dort, wo eher klassische Buchkost serviert wird, was den Altersdurchschnitt enorm senkt. „Hier ist das Publikum in etwa zwanzig Jahre jünger als in Frankfurt“, staunt Alfred Klemm, Chef des Stuttgarter Kröner-Verlag, der in diesem Jahr zum ersten Mal in Leipzig mit eigenem Stand präsent ist.
Niederösterreich und Dunkeldeutschland
„Des Eigane dans feiern und des Ondare negiern, diese gonzn Patriotn, nationale Idiotn“, dröhnt ein Liveauftritt der österreichischen Band Attwenger aus dem Stand des Gastlandes, vor dem sich die längsten Schlangen bilden. Klischeezertrümmerung, könnte man nennen was hier stattfindet, meaoiswiamia ist der denkbar größte Kontrapunkt zum selbstgefälligen mia san mia der bayerischen Nachbarn. Und so geht auch der Autor Doron Rabinovici hart ins Gericht mit seinem Land, in dem Boulevard- und Hetzmagazine den Ton angeben und unappetitliche Koalitionen gebildet werden. Sein metaphorischer Gebrauch des Begriffs „Niederösterreich“ entspricht in etwa dem was, man hier Dunkeldeutschland nennt.
Mit letzterem hat der Autor, Verleger, Gastronom und Gabelstaplerfahrer Dinçer Güçyeter Erfahrungen gemacht, die er in seinem Mutter-Roman „Mein Deutschlandmärchen“ verarbeitet. Wenige Stunden vor der Verleihung des Leipziger Buchpreises will er an dem kleinen Stand des von ihm gegründeten Elif-Verlages noch nichts davon wissen, sein Buch könnte ausgezeichnet werden. Später als genau das passiert ist, findet er die lustigsten und zugleich bewegendsten Dankesworte. Als er seiner Mutter von der Nominierung erzählte, habe diese nur geantwortet: „Zwei Jahre Pandemie – die haben alle den Verstand verloren.“ Wer den Roman liest, weiß, dass eher das Gegenteil der Fall ist.
Aber was haben zwei oder mehr Jahre Pandemie mit der Verlagswelt angestellt? Diese Frage kann der Hanser-Verleger Jo Lendle beantworten. Unterwegs zu ihm gerät man in ein Gespräch mit Deutschlands bekanntestem Förster Ralf Wohlleben, denn diese Messe ist auch eine Klimabuchmesse: Er kritisiert das Bäumeschlachten, spricht vom Rohstoffhunger der Nadelholzjunkeys. Eines der Verarbeitungsprodukte kann man auf der Messe besichtigen.
Auch bei Jo Lendle mischen sich in die Euphorie über das wiederkehrte Messetreiben leisere Töne: „Eigentlich geht es allen gerade schlechter als sie lächeln.“ Der großen Freude, in eine vergessen geglaubte Routine hineinzufinden, stehe die Gewissheit gegenüber, dass sich die Welt verändert hat: „Es ist schwerer geworden Bücher zu machen. Wir werden die Probleme mit Druck, Papier und Energie auch nach einem Ende des Krieges nicht mehr in den Griff kriegen, die Bedingungen und Hintergründe haben sich geändert.“ Und ganz im Sinne Wohllebens fügt er hinzu: „Unser Grundmaterial ist ein sehr energieintensiver Rohstoff – es schaut uns zurzeit fremd an.“
Um doch mit einem Lächeln zu enden, zum Schluss noch einmal das Gastland. Der Wiener Comic-Zeichner Nicolas Mahler hat einen schlechten Orientierungssinn. Er habe schon einmal vier Stunden von Halle zwei nach Halle vier gebraucht. Sein neues Werk spielt in Japan. An einer Stelle sagt ein Mann zu seiner Frau: „Weißt du, was ich am besten fand? Den Harnröhrenspreizer.“ Man selbst würde diese Frage ganz sicher anders beantworten: Österreich.