Seit eineinhalb Jahren wartet ein Ehepaar darauf, dass die Stuttgarter Behörden seiner Tochter eine gebärdensprachliche Assistenz gewähren. Zuletzt hat das Sozialgericht die Stadt zur Eile gemahnt.
Stuttgart - Die Suche nach einem Platz in einer Kindertageseinrichtung ist in Stuttgart schon schwer genug. Die Familie, Mutter Liuba Melnitschuk und Vater Mykola Tymoshchuk, hat einen Platz gefunden, doch ihre gehörlose Tochter Uljana (2) kann die Kita nicht besuchen. Der Grund: Die Stadt hat die vor eineinhalb Jahren beantragte gebärdensprachliche Assistenz bisher nicht bewilligt. Das hat nun das Sozialgericht bewogen, die Stadt zum Handeln aufzufordern.
Die Zeit drängt. „Der Platz in der von uns gewählten Kita wird für unsere Tochter maximal bis zum 14. Februar freigehalten“, sagt Liuba Melnitschuk. Die beiden Eltern sind Ende 30 und berufstätig, Uljanas ältere Schwester ist in diesem Jahr eingeschult worden. Alle sind hörend – bis auf das Nesthäkchen. Nach Meinungsverschiedenheiten mit der ersten Kita, die Uljana bis September 2021 mit einer ebenfalls gerichtlich erstrittenen Assistenz fürs Dolmetschen besucht hat, sollte das Kind so schnell wie möglich in eine neue wechseln können. Kurz vor Weihnachten und am Runden Tisch gab es noch berechtigte Hoffnung auf eine schnelle Entscheidung.
Dazu muss man wissen: Die Entscheidung, welches Kind welche Assistenz zur Inklusion bekommt, wird in sogenannten Teilhabekonferenzen besprochen. Dort kommen Vertreterinnen und Vertreter aller beteiligten Institutionen mit der Familie zusammen, in Uljanas Fall Personen aus der Kita, aus der Kita-Fachberatung, aus Jugend- und Sozialamt und der Antidiskriminierungsstelle. In der Konferenz, in der Uljanas Assistenz erörtert wurde, kam es am 21. Dezember 2021 zu einer Übereinstimmung: Das Mädchen soll „möglichst noch im Januar“ die Kita mit „geeigneter gebärdensprachkompetenter Assistenz“ besuchen. Die Kita und die Stadt sagen zu, „zeitnah“ Gespräche über eine Leistungs-/Vergütungsvereinbarung zu führen. Sie ist Basis für den Einsatz von Assistenzen. Doch Mitte Januar 2022 liegt diese noch immer nicht vor.
Aus Angst, den Kitaplatz zu verlieren, ruft Liuba Melnitschuk erneut das Sozialgericht Stuttgart an. Das Gericht fordert am 18. Januar 2022 das Sozialamt innerhalb einer Woche zu einer Stellungnahme auf – und zur „Berücksichtigung der gebotenen Eile“.
Auf die Frage, warum die Entscheidung so lange Zeit in Anspruch nehme, verweist die Pressestelle auf das komplexe, komplizierte Verfahren und teilt mit: „Die Landeshauptstadt Stuttgart hat bisher für die begehrten Leistungen keine Vergütungsvereinbarung abgeschlossen, steht aber in entsprechendem Kontakt.“ Das Verfahren erfordere „mehrere, teilweise zeitaufwendige Schritte“. Zudem hänge die Dauer auch von Faktoren ab, auf die das Sozialamt nur teilweise Einfluss nehmen könne. Die Pressestelle erwähnt eine städtische Kita, die derzeit einen Platz frei habe. „Der Besuch jenes Kindergartens wäre auch ohne gebärdensprachliche Assistenz möglich“, heißt es in der Stellungnahme. Diese Einschätzung widerspricht allerdings dem Ergebnis der Teilhabekonferenz. Uljanas Mutter hat den Eindruck, dass sich die Sache im Kreis dreht.
Erstmals hat die Familie den Antrag auf Eingliederungshilfe beim Sozialamt Anfang August 2020 gestellt. Seit damals hat die Familie eine Begleitung für das Kind nur über gerichtliche Verfügungen erwirken können. Liuba Melnitschuk ist verzweifelt. Sie sagt: „Uns wird oft ein zu großes Anspruchsdenken vorgeworfen. Aber: Nicht unser Rollstuhl ist zu breit, sondern die Türen sind vielmehr zu schmal.“
Noch sind Gebärdensprach-Dolmetscher nicht die Regel
Betroffene
Es gibt keine offizielle Statistik, die Gehörlose und Menschen mit Hörbehinderung (Schwerhörige) erfasst, weil die Einschränkung wie alle anderen auch nicht meldepflichtig ist. Verbände schätzen die Zahl der Gehörlosen bundesweit auf rund 80 000, das entspricht 0,1 Prozent der Gesamtbevölkerung. Das Sozialministerium in Baden-Württemberg geht von rund 8000 gehörlosen Menschen mit einem festgestellten Grad der Behinderung von mindestens 50 aus (Stand: Dezember 2019); weitere 33 000 Menschen sind schwerhörig.
Gebärdensprache
Rund 250 000 Menschen in Deutschland kommunizieren in Deutscher Gebärdensprache (DGS), darunter auch Schwerhörige und Menschen mit einer Hörprothese, einem sogenannten Cochlea-Implantat. Nach Angaben des Deutschen Schwerhörigenbundes sind bundesweit circa 140 000 Schwerhörige auf Gebärdensprach-Dolmetscher angewiesen. Noch sind sie bei Konferenzen, Veranstaltungen und Vorträgen nicht die Regel. (czi)