Geisterschiff: Mit rund 400 Flüchtlingen an Bord ließen Schlepper den Viehtransporter „Ezadeen“ führungslos auf die italienische Küste zufahren. Foto: ICELANDIC COAST GUARD

Die Brutalität der im Mittelmeer aktiven Schleuserbanden erreicht gerade eine neue Dimension. Trotzdem wird der Zustrom von Flüchtlingen nicht kleiner. Diesen unangenehmen Wahrheiten muss sich die EU stellen. Und zwar geeint.

Drinnen wird noch auf dem Stand von 2014 debattiert. Doch draußen baut sich die Gefahr schon deutlich größer auf. Quer durch Westeuropa streiten EU-Bürger darüber, was der rechte Umgang sei mit den allein schon mehr als 150 000 Flüchtlingen, die im vergangenen Jahr Italien von Afrika und Asien her erreicht haben. Derweil zeigen die aktuellen Fälle führerlos auf Italiens Küsten zufahrender Flüchtlingsschiffe: Die Schleuserbanden, die an der Not der nach Europa Drängenden und den Sorgen der in Europa Lebenden dreckige Riesenvermögen verdienen, greifen zu terroristischen Methoden.

Terroristisch deshalb, weil eine Großkatastrophe programmiert ist, wenn ein Schiff mit mehr als 800 Menschen an Bord ungebremst auf eine Küste kracht. Die Überlebenschance im Mittelmeer misst sich bei der aktuellen Wassertemperatur nach Minuten. Die Schäden, die ein zerbrechendes Motorschiff in der Umwelt hinterlässt, sind immens.

Terroristisch auch deshalb, weil in den neuen Methoden der Schleuser so viel erpresserisches Potenzial steckt: Ist der zu erwartende Schaden nur groß genug, wird sich immer jemand finden, der versucht, ihn abzuwenden. Und der hat dann auch gleich die Fürsorgepflicht für die Flüchtlinge, die er auffischt.

Diese perverse Logik der Täter hat sich schon im vergangenen Jahr abgezeichnet. Als Folge der Schiffskatastrophe vor Lampedusa vom 3. Oktober 2013 mit fast 400 Toten hat Italien seine Seestreitkräfte für zwölf Monate zur Operation Mare Nostrum bis an Libyens Küsten ausgesandt. Deren segensreiche Bilanz: mehr als 100 000 aus Seenot gerettete Flüchtlinge. Die Kehrseite: Schleuser haben ihre Kunden auf immer klapprigere Boote gepfercht – und häufig einem von ihnen einen Zettel mit der Telefonnummer der italienischen Küstenwacht in die Hand gedrückt. So wurde Mare Nostrum zu einer humanitären Großtat – aber eben auch zu einem Kostensenkungsprogramm für Schlepperbanden.

All das zeigt: Diesen Menschen, die andere Menschen auf See als Entsorgungsfälle behandeln, gebührt jetzt die maximale Aufmerksamkeit der EU. Der maximale Verfolgungsdruck von Polizei und Militär und die maximale Härte des Strafrechts. Insofern liegen die Kritiker total falsch, die im Oktober die Polizei-Aktion Mos Maiorum als „Blitzkrieg gegen Flüchtlinge“ verunglimpft haben. Bloß weil Tausende Polizisten aus zahlreichen EU-Ländern ihre gegen Schleuser gerichteten Ermittlungen logischerweise auch bei den Flüchtlingen angesetzt haben. Europa – und die Flüchtlinge – brauchen mehr und nicht weniger Anstrengungen dieser Art.

Die unterbleiben aber, wenn die EU in der Flüchtlingspolitik nicht enger zusammenrückt. Wenn sich nicht endlich auch das Vereinigte Königreich als das EU-Land mit der stärksten Marine und beachtlicher Mittelmeer-Präsenz am Schutz dieser EU-Außengrenze beteiligt. Wenn nicht alle EU-Staaten die gemeinsamen Abkommen über die Lastenverteilung beachten. Und wenn diese nicht gerechter wird. Italien hat für Mare Nostrum 112 Millionen Euro ausgegeben, allein die Stadt Stuttgart für einen menschenwürdigen Umgang mit Flüchtlingen im selben Zeitraum aber auch mehr als 40 Millionen. Andere tun gar nichts.

Was zu den unangenehmen, aber unumstößlichen Wahrheiten führt: Angesichts von aktuell vier Kriegen allein im nahen Umfeld der EU wird sich das Flüchtlingsproblem so schnell nicht entspannen. Europa wird es nur dann einigermaßen beherrschen, wenn es einig steht. Nicht zuletzt gegen den Terrorismus der Schleuser.