Georgii (re.) mit seiner Familie Foto: Barbara-Maria Vahl

Der neunjährige Junge Georgii aus der Ostukraine musste vor der russischen Belagerung fliehen, sah, wie sein Vater erschossen wurde – und hat wie viele andere Kinder immer noch mit schweren psychischen Problemen zu kämpfen.

An den Tag der Flucht aus Mariupol erinnert sich der neunjährige Georgii sehr genau. Es war der 15. April 2022 in Mariupol, Ostukraine, am Ufer des Asowschen Meers an der Mündung des Kalmius. Die Russen hatten die Stadt seit Februar belagert. „Wir hatten riesiges Glück, wir sind in den letzten 15 Minuten noch durch die Checkpoints gekommen, bevor sie endgültig geschlossen wurden!“, erzählt er.

Am ersten russischen Checkpoint waren sie zurückgeschickt worden, viele weitere mussten sie passieren, und jedes Mal wurde das Auto durchsucht. Georgiis Bruder Misha, damals noch 14 Jahre alt, ergänzt: „Es war sehr gefährlich, durch den humanitären Korridor zu fahren, man wusste, dass er nie sicher und zu beiden Seiten vermint war.“ Spielsachen konnten die Brüder nicht mitnehmen, die Oma blieb zurück, ebenso die beiden Katzen Lord und Fira, ein Abschied von den Freunden war nicht möglich. „Es war der schönste Tag meines Lebens, als wir raus waren aus der russisch besetzten Zone und uns die ukrainischen Soldaten begrüßten.“ An diesem Tag sei er erwachsen geworden, sagt Georgii.

Einiges war diesem Tag der Flucht vorausgegangen. Georgiis und Mishas Mutter Olga konnte in letzter Sekunde ein Auto mit Fahrer auftreiben, der sie nach Lwiw in der Westukraine zu den Verwandten bringen sollte – 1200 Kilometer von Mariupol entfernt. Zu diesem Zeitpunkt gab es fast keine Lebensmittel mehr, erzählt sie, die Stadt lag unter Dauerbeschuss. In der Wohnung gab es keinen Strom, kein Gas, kein Internet. Durch die Detonationen waren alle Fensterscheiben zu Bruch gegangen, Durchschnittstemperatur fünf Grad. Dann traf eine Mörsergranate den eigenen Wintergarten, in dem fünfstöckigen Wohnhaus brachen Wände heraus, versperrten die Haustür. Georgii wurde verletzt, am Ohr, am linken Fuß. Medizinische Versorgung gab es nicht. Das Geräusch von berstenden Scheiben macht ihm bis heute schreckliche Angst, sagt Georgii. Olgas Mann, Mishas und Georgiis Vater, trat für zwei Minuten auf die Straße, um abzuschätzen, ob das Haus noch stabil ist – und wurde von Scharfschützen erschossen.

An diesem Tag endete die Kindheit für Georgii und Misha.

So wie für alle Kinder in der Ukraine seit der Belagerung durch Russland – auf unterschiedliche Weise. Das sagt auch die Psychotherapeutin Nataliia Potseluieva aus Kiew, die in ihrer Praxis eine große Zahl vergewaltigter Mädchen und Kinder betreut. Die jüngste Patientin war fünf, als sie nach der Invasion der Russen in einem Kiewer Vorort vergewaltigt wurde. Sie war nach ihrer Mutter dran. Der Vater wurde gezwungen, alles mit anzusehen. Dieses kleine Mädchen sei nach einjähriger Psychotherapie ganz gut stabilisiert, sagt die Therapeutin, aber sie habe in ihrer Praxis eine ganze Reihe junger Mädchen, die selbstmordgefährdet seien. Sie alle seien schwer traumatisiert, was an den wiederkehrenden Flashbacks, dem andauernden Gefühl von Stress, Symptomen wie Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, hohem Blutdruck, Schweißausbrüchen und Albträumen zu erleben sei. „Viele hassen ihren Körper, verletzen sich selber. Sie meiden soziale Kontakte. Einige leiden zusätzlich an Geschlechtskrankheiten.“

Auf die Frage, wie viele Kinder vom Krieg betroffen seien, antwortet Psychotherapeutin Potseluieva: „Alle. Hundert Prozent.“ Das liege daran, dass es nirgendwo im Land einen sicheren Ort gebe, überall Luftalarme, niedergehende Drohnen. Man könne nicht immer unbedingt von Traumata sprechen, aber alle Kinder erlebten ein tiefgreifendes Gefühl der Verunsicherung, und sie erlebten die Trauer ringsum.

Genau so sieht es auch Marta Bilyk in Lwiw, die Georgii und Masha psychotherapeutisch betreut. Selbst ganz kleinen Kindern könne man nichts vormachen. „Sie lesen in den Augen ihrer Eltern, sie nehmen alles um sich herum sehr sensibel wahr, sie hören bedrohliche Geräusche und spüren, dass etwas Gefährliches im Gange ist.“ Beide Therapeutinnen arbeiten zum Teil in ihrer Praxis, zum Teil online mit ihren Patientinnen und Patienten. Beide setzen Kunsttherapie, Methoden der Visualisierung und andere nonverbale Therapieformen ein, bevor und während die Kinder und Jugendlichen anfangen, sich zu öffnen und zu sprechen. Eine sehr große Zahl Kinder und Jugendlicher sei derzeit in der Ukraine in Therapie. Die Kosten tragen häufig Stiftungen.

Im Vergleich zu der Zeit vor der Belagerung durch Russland hätten sich die Kinder definitiv verändert, so der Eindruck des Kiewer Mathematiklehrers Ihor Borisovych. Immer wieder erlebe er bei Kindern ein hohes Maß an Aggression, er habe schon „furchterregende Wutausbrüche beobachtet, richtig wilde Wut“, aber das könne ja gar nicht anders sein. Er nehme wahr, dass sich viele Kinder sehr gestresst fühlten, sehe Gedächtnisprobleme. Zugleich sagt Borisovych: „Kinder bleiben Kinder, sie sind oft in der Lage, auch in schlimmen Situationen etwas Positives für sich zu finden. Sie haben Freundschaften, sie verlieben sich.“ Und mit Freude sehe er, dass sie sich auf einmal für Politik interessierten und sehr motiviert seien zu lernen.

„Kinder haben große Erinnerungsschwierigkeiten, da das Gehirn immer versucht, diese belastenden Momente auszuschneiden“, erklärt die Therapeutin Potseluieva. „Der Stress beeinträchtigt die kognitiven Fähigkeiten, das bedeutet, dass die Lernfähigkeit sinkt“, sagt auch Marta Bilyk. Beide Therapeutinnen beobachten generell, dass junge Kinder wie auch Teenager häufiger sehr aggressiv seien, starke Wutausbrüche bekommen. Aber auch Angst haben. „Je älter sie werden, desto mehr Angst haben sie“, so Marta Bilyk. Viele Kinder seien frühzeitig erwachsen geworden. Jüngere Kinder fielen manchmal in frühere Entwicklungsstadien zurück.

Welche langfristigen Auswirkungen die vielfältigen belastenden Situationen, die der Krieg mit sich bringt, für die Kinder haben werden, das, sagen beide Therapeutinnen, sei heute noch gar nicht absehbar. An traumatischen Erfahrungen könnten Menschen zerbrechen – oder wachsen. Sehr hilfreich sei es in jedem Fall, wenn Kinder sichere, stabile Erwachsene um sich herum haben und ein stabiles Umfeld.

Die Brüder Misha und Georgii haben in Lwiw neue Freunde gefunden, sie gehen gern zur Schule, haben Hobbys und eine neue Katze, Schuscha. Ihre Mutter Olga arbeitet für die Stiftung Children of Heroes, die 7000 ukrainische Kinder unterstützt, die im Krieg Eltern verloren haben.

Misha ist im Dezember 16 Jahre alt geworden. Sein Traum? „Ich will Psychotherapeut werden“, sagt er. „Es werden viele Soldaten zurückkommen, denen es nicht gut geht. Ich möchte ihnen helfen, damit klarzukommen.“