Ruhe reinbringen in den Streit um den richtigen Weg zum Abitur – dabei sollen jetzt Zufallsbürger helfen. Foto: dpa/Felix Kästle

Braucht die Schule acht oder neun Jahre bis zum Abitur? Das ist eine Gretchenfrage der Politik. Ab jetzt reden Bürger mit. Wie das abläuft, und wie viel sie zu sagen haben.

In Baden-Württemberg ist die Frage, wie lange die Schulzeit bis zum Abitur dauern soll, einer der heißesten Zankäpfel der Schulpolitik. Den Streit befrieden, dessen Konfliktlinien auch zwischen den Koalitionspartnern von Grünen und CDU verläuft, soll ein Bürgerdialog, den die Landesregierung ins Leben gerufen hat. Der Startschuss für die Vorbereitungen ist an diesem Montag in Stuttgart gefallen.

Sechzig Vertreter von Institutionen und Verbänden aus dem Schulbereich waren in Bad-Cannstatt im Kursaal vertreten, um abzustecken und zu ergänzen, anhand welcher Fragen, Aspekten und Fakten das Thema in dem Beteiligungsverfahren debattiert werden soll. Damit ist das größte Beteiligungsverfahren eröffnet, das es in Baden-Württemberg bisher gegeben hat.

Faires Verfahren

Der Hohenheimer Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider, der das Verfahren zum Start der Sitzung skizzierte und über Beteiligungsformate forscht, hält das Vorgehen für eine Chance, die Debatte zu befrieden – sogar wenn die Politik am Ende nicht den Empfehlungen der Bürger folgt. „Wir sehen in unseren Forschungen, dass den meisten Menschen ein qualitativ hochwertiges Verfahren wichtiger ist als das Ergebnis“, sagte er. Für die Akzeptanz extrem wichtig sei dagegen, „dass man den Eindruck hat, dass das Verfahren fair war“.

Überraschend war beim Start, dass die wenigsten Teilnehmer – Gewerkschaften, Lehrer- und Schülervertreter, Hochschulen, Rektorenverbände, Kommunal-, Wirtschafts- und Kirchenvertreter – sich festlegten, ob sie G8 oder G9 bevorzugen.

Derzeit ist in Baden-Württemberg das achtjährige Gymnasium die Regelschule. Die neunjährige Variante gibt es bei den allgemeinbildenden Gymnasien als Modellschule an 44 Standorten oder an beruflichen Gymnasien.

Eckpunkte der Debatte

Das klarste Plädoyer für G9 gab die Aktivistin Anja Plesch-Krubner, die Unterschriften sammelt, um die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium per Volksantrag durchzusetzen, und der Vorsitzende des Philologenverbands Ralf Scholl unterstützt von den Rektorenvereinigungen. Beide argumentierten mit den vollgestopften Stundenplänen im G8, die zu wenig Zeit ließen für vertieftes Lernen, neue Themen und Persönlichkeitsentwicklung. Das andere Ende des Meinungsspektrums markierte Johannes Krumme als Vertreter der Unternehmer Baden-Württemberg. Er spricht sich dafür aus, das Gymnasium als Schule für besonders leistungsstarke Schüler zu profilieren. „Das kann am besten in G8 gelingen“ betonte er.

Die Schlüsselfrage der Ressourcen

Bei der Auftaktveranstaltung zeichnete sich ab, dass die Frage nach den Ressourcen – Geld, Räume und Lehrkräfte – in den Mittelpunkt der Debatte gehört. Große Einigkeit herrschte bei vielen Rednern, dass die Dauer der gymnasialen Schulzeit Auswirkungen auf das gesamte Schulsystem im Land hat. Viele Redner betonten, dass man Ressourcen nur einmal nutzen kann. Viele sagten auch, dass Baden-Württemberg sowohl bei der Förderung der starken als auch der schwachen Schüler schwach aufgestellt ist. Deshalb dürften die Grundschulen wegen einer Gymnasialreform nicht hinten runterfallen.

Nach dem Auftakttreffen der schulpolitischen Akteure werden in den Sommerferien die Zufallsbürger für das Verfahren ausgewählt. Dazu werden laut Informationen des Beteiligungsportals tausende Schreiben verschickt, um eine soziodemografische Auswahl von Personen zu gewinnen, die nach Stadt, Land Alter, Geschlecht und Staatsbürgerschaft die Vielfalt des Landes abbilden. Repräsentativ ist die Auswahl aber nicht. Wer Zufallsbürger wird, wird am Ende gelost.

Getagt wird bis Jahresende

Tagen werden diese Zufallsbürger ab Ende September. Bisher hat die Servicestelle Bürgerdialog sechs Sitzungen geplant. Die meisten sollen digital stattfinden. Das habe sich in der Pandemie als gutes Format erwiesen. Für die Glaubwürdigkeit sei die Unabhängigkeit des Verfahrens zentral, heißt es bei der Servicestelle Bürgerdialog.

Begleitend zur Debatte der Zufallsbürger kann ab August oder September jeder am Thema Interessierte auf dem Beteiligungsportal im Internet die Themenlandkarte kommentieren. Eine Agentur übernimmt die Moderation im Verfahren. Auch dies soll die Unabhängigkeit des Prozesses garantieren. Laut Staatsministerium ist für den Bürgerdialog zum Gymnasium ein Betrag von 150 000 Euro vorgesehen. Das Bürgerforum formuliert am Ende eine Empfehlung. Die Landesregierung und der Landtag sind an das Votum nicht gebunden.