EU-Kommissar Günther Oettinger verteidigt die EU gegen Kritik. Foto: dpa

„Eurokraten?“ Solchen Klischees machen den EU-Kommissar für Energie und früheren baden- württembergischen Ministerpräsidenten Günther Oettinger (CDU) zunehmend ärgerlich. Ausdrücklich lobt er das Arbeitsethos der Brüsseler Politiker und Beamten.

„Eurokraten?“ Solchen Klischees machen den EU-Kommissar für Energie und früheren baden- württembergischen Ministerpräsidenten Günther Oettinger (CDU) zunehmend ärgerlich. Ausdrücklich lobt er das Arbeitsethos der Brüsseler Politiker und Beamten.
 
Herr Oettinger, am 25. Mai ist Europawahl. Am selben Tag wird in der Ukraine gewählt. Welche Wahl hat eine höhere Bedeutung?
Dass die Ukraine ihren neuen Präsidenten am gleichen Tag wählt wie die Bürger der Europäischen Union ihr Europaparlament, hat eine symbolische Bedeutung. Damit wollte die ukrainische Politik ihr Ziel, näher an die EU heranzurücken, ausdrücken. Wir müssen alles tun, dass diese Wahl stattfinden kann – auch in der Ostukraine.
Kriegsszenarien in Europa galten zuletzt als unvorstellbar – trotz der Erfahrungen des Balkankrieges, die gerade mal 20 Jahre zurückliegen. Jetzt kehren solche Szenarien zurück. Was ist passiert?
In den Regierungsjahren von Gorbatschow und Jelzin haben eine größere Zahl ehemaliger Sowjetrepubliken ihre Unabhängigkeit erklärt und sind zu eigenen Staaten geworden. Einige davon haben eine stabile Entwicklung genommen – Estland, Lettland, Litauen. Andere sind, mit gewissen Demokratiemängeln, wirtschaftlich erfolgreich wie Aserbaidschan. Wieder andere sind heute relativ stabile Demokratien, aber wirtschaftlich nicht erfolgreich: Moldawien oder Georgien. Die Ukraine dagegen hat in den vergangenen Jahrzehnten wenige Fortschritte gemacht. Die Wirtschaft ist schwach, und das große Land leidet unter einer gewissen Zerrissenheit, die historisch bedingt ist. Deswegen müssen wir dafür sorgen, dass bei einer weiteren Annäherung an die EU nicht die Brücken zu Russland abgebaut werden. Es kann allerdings auch nicht sein, dass in Europa Grenzen gewaltsam verschoben werden.
In der Bevölkerung gibt es Stimmen, die meinen, die EU habe als Friedensunion versagt, weil sie durch ihr Agieren in der Ukraine zu Unfrieden beitrage. Was entgegnen Sie?
Es war die freie Entscheidung der Ukraine, und zwar der Präsidenten und Regierungen unterschiedlicher politischer Ausrichtung, mit der EU ein Assoziierungsabkommen zu verhandeln. Das ist nicht gegen Russland gerichtet, sondern soll die Schranken für Importe und Exporte im Handel mit der EU abbauen. Nur so kann die Ukraine eine vergleichbare wirtschaftliche Entwicklung nehmen wie das ähnlich große Polen. Im Übrigen finde ich, dass die EU als Friedensunion in diesen Wochen trotz manchmal unterschiedlicher Betrachtungen in ihren Mitgliedstaaten eine überzeugende Politik nach außen wie nach innen vertritt.
Sind Kriegsängste berechtigt?
Ich glaube nicht, dass man Angst vor einem erklärten Krieg haben muss, wie man ihn in Europa seit Jahrzehnten glücklicherweise nicht mehr kennt. Aber Unruhen, Bürgerkriege oder Drohungen und Erpressungen mit der Möglichkeit eines Krieges – das ist sehr wohl gegenwärtig. Ähnliches haben wir vor 20 Jahren mit schrecklichen Folgen auf dem Westbalkan erlebt. Was in diesen Tagen in der Ostukraine geschieht, ist Politik mit Mitteln, die aus Kriegszeiten stammen.
Wenn man von Stuttgart oder von einer anderen Stadt in Deutschland aus auf Europa blickt, entsteht leicht der Eindruck, die EU sei übermächtig. Im Weltmaßstab betrachtet, spielt die EU jedoch nur eine kleine Rolle. Drückt sich in der Klage über die überbordende EU deutscher Kleingeist aus?
Eindeutig ja. Die Frage ist doch, ob wir die Welt von morgen für unsere Kinder und Enkelkinder mitgestalten, ob wir unsere Werte erhalten und unser Menschenbild behaupten wollen. Und das geht nun einmal nur europäisch. Ein Beispiel macht die Größenverhältnisse klar: Wenn man die Einwohnerzahl von Baden-Württemberg und des Freistaats Bayern addiert, kommt man auf weniger Einwohner, als Schanghai heute hat. In China wird es in absehbarer Zeit 15 Städte dieser Größenordnung geben. Bei allem Respekt vor Deutschland: Wir stellen bald nur noch ein Prozent der Weltbevölkerung. Allein werden wir die großen Fragen der Welt nicht beeinflussen können. Das geht nur im europäischen Team und mit europäischem Briefbogen.
Heißt das, man nimmt sich in Deutschland selbst zu wichtig und die EU zu unwichtig?
Man sieht die vielen Vorteile von Europa als selbstverständlich an – etwa die Freizügigkeit. Gleichzeitig hat man Probleme, die sich daraus ergebenden Pflichten zu akzeptieren. Hinzu kommt: Gerade in Deutschland ist man derzeit zu stark auf die Gegenwart und die gute wirtschaftliche und soziale Lage fixiert. Man ist bestrebt, den Wohlstand zu erhalten, und kümmert sich sonst um wenig. Eine weit verbreitete Gepflogenheit.
Warum hat Europa so viele Gegner – auch in etablierten Parteien? Europapolitiker haben den Eindruck, sie würden regelrecht gemobbt.
Es fällt mir auf, dass in Bezug auf die Europäische Union Formulierungen verwendet werden, die EU-Vertreter gegenüber Mandatsträgern in den Mitgliedstaaten nicht verwenden würden. Das ist teilweise etwas deftig. Ich mahne uns alle zu einem besseren Umgang und zu mehr Respekt.
Ist es von einer Volkspartei wie der CSU verantwortlich, Europa madig zu machen?
Bayern ist ein derart erfolgreiches Land, dass sich der Freistaat seit einigen Jahrzehnten herausnimmt, gegenüber Berlin und gegenüber Brüssel in einigen Fragen besonders kritisch eingestellt zu sein. Das müssen wir akzeptieren. Bei den wichtigen Themen hat Bayern die europäische Politik übrigens immer mitgetragen. Es war der frühere CSU-Vorsitzende Theo Waigel, der maßgeblich die Euro-Kriterien entwickelt und durchgesetzt hat. Auch Edmund Stoiber, der sich ehrenamtlich und engagiert für die Verwaltungsvereinfachung in der EU einsetzt, ist ein überzeugter Europäer geworden.
Den jetzigen CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer erwähnen Sie nicht. Er bezeichnete Sie jüngst als „Oberlehrer“. Trifft Sie das?
Das bespreche ich mit ihm unter vier Augen. Ich bin in den nächsten Tagen in München und habe Gelegenheit, ihn zu treffen.
Hat die CSU mit Ihrer Forderung recht, die Zahl der EU-Kommissare – jetzt 28 – zu halbieren?
Klar ist, keine Regierung braucht 28 Ressorts und 28 Minister oder Kommissare. Ich darf aber darauf hinweisen, dass wir in Deutschland – Bund und Länder zusammen – mehr als 180 Minister und Staatssekretäre für 80 Millionen Einwohner haben. Da sind 28 EU-Kommissare für rund 505 Millionen Menschen nicht zu viel. Hinzu kommt: Jeder Kommissar ist nicht nur für einen bestimmten Bereich verantwortlich. Er vertritt die EU auch in seinem Mitgliedsland und kann umgekehrt die Interessen und die Befindlichkeiten seines Entsendelandes in der Kommission und im Europäischen Parlament verständlich machen. Diese Brückenfunktion halte ich für unentbehrlich.
Warum?
Glaubt jemand im Ernst, ein Land wie Frankreich würde bei einer Verkleinerung der Kommission auf seinen Kommissar verzichten? Oder Deutschland? Gleichzeitig ist für die kleinen Mitgliedstaaten ein Kommissars-Posten für ihre strukturelle Entwicklung enorm wichtig. Wenn man die Integration Europas ernst meint, ist eine Verkleinerung der Kommission also nicht durchführbar.
Müssten die deutschen Länder nicht eher bei sich anfangen?
Ich kritisiere nicht die Zahl der Mandate und Funktionen in Deutschland. Ich weise allerdings darauf hin, dass man nicht eine Verkleinerung der Gremien in Brüssel fordern kann, wenn man weiß, dass man damit auch in Deutschland scheitert. Die einzige Länderneugliederung war die von Baden-Württemberg. Andere wären wünschenswert, sind aber nicht realistisch.
Wenn von Brüssel die Rede ist, fällt oft der abwertende Ausdruck „Eurokraten“. Von Berlin-, München- oder Stuttgart-Kraten ist nie die Rede. Wird bei uns besser regiert?
Die Arbeitsstruktur von Behörden, in denen Beamte aus 28 Nationen arbeiten, ist nicht vergleichbar mit der des Landratsamtes in Biberach. Aber schon in den Bundesministerien haben wir unterschiedliche Arbeitskulturen – je nachdem aus welchem Bundesland die Mitarbeiter kommen. Ich finde es eine großartige Leistung, wie konsequent und schlüssig die europäischen Behörden arbeiten. Zur Qualität der Arbeit und zur Qualifikation der Mitarbeiter kann ich nur sagen: Ich kenne öffentlich Bedienstete von Ditzingen über Ludwigsburg und Stuttgart bis nach Berlin – die Qualität und die Qualifikation der Mitarbeiter ist in Brüssel und Straßburg kein bisschen schlechter. Die Auswahl ist strenger, und die Arbeitszeit endet am Freitagabend um 20 Uhr und nicht um 12.30 Uhr wie in vielen deutschen Dienststuben.
Die Euro-kritische Partei Alternative für Deutschland (AfD) vergleicht die EU auf einem Wahlplakat mit Nordkorea. Was fällt Ihnen dazu ein?
Der Parteivorsitzende, Herr Lucke, ist von seiner Vita her ein respektabler Mann. Den AfD-Spitzenkandidaten Hans-Olaf Henkel kenne ich noch aus seiner Zeit als IBM-Chef und habe ihn später als Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie kennen- und schätzen gelernt. Man kann sich nur wundern, dass diesen Herren so etwas entweder durchrutscht oder von ihnen gar gewollt wird. Beides wäre peinlich. Wenn es durchrutscht, beweist es, dass sie ihren Laden nicht im Griff haben, wenn es so gewollt ist, zeigt es, dass beide eine Veränderung erleben, die wohl mit Wahlkampf zu tun hat. Dieses Plakat muss auch dem Letzten klarmachen, dass die AfD deutsche Interessen in Europa nicht konstruktiv vertreten kann.
Was muss die EU ihrerseits besser machen, um weniger Angriffsflächen zu bieten?
Die Politik muss auf allen Ebenen besser werden – das gilt für die EU, aber auch für die Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik. Keiner ist frei von Fehlern. Nach der Europawahl und noch vor der Bildung der neuen Kommission sollten wir eine neue Kompetenzordnung beraten. Es muss deutlich werden, welche Aufgaben in den nächsten Jahren auf europäischer Ebene wahrgenommen werden und für welche Politikfelder die Mitgliedstaaten uneingeschränkt zuständig sind. Daran arbeite ich intensiv mit.
Wie sehr hängt Ihr Herz am Posten des EU-Kommissars?
Da stelle mich auf beide möglichen Szenarien ein. Ich bereite mich vor, dass mein Mandat Ende Oktober zu Ende geht, und habe deswegen auch Gesprächsfäden in die Wirtschaft geknüpft. Ich bin aber auch gerne bereit hierzubleiben, wenn der Ausgang der Europawahl entsprechend ist und die Bundesregierung mich vorschlagen will.