Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (links) und Grünen-Bundesvorsitzender Cem Özdemir auf dem Parteitag in Reutlingen Foto: dpa

Was ist drin im Wahlpaket, auf dem „Grüne“ steht? Die Partei macht daraus in Reutlingen kein Geheimnis, sondern listet alles auf 100 Seiten auf. Überraschungen sind freilich nicht dabei, der Inhalt soll schließlich auch Wählern vom CDU-Lager schmecken.

Reutlingen - Leise Musik und ein paar Stehtische mit Prospekten, wo die Chefs einer Windkraftfirma mit Ministern plaudern – im Foyer der Reutlinger Stadthalle wähnt man sich an diesem Wochenende eher auf einer Messe denn bei einem Grünen-Parteitag, so dezent und seriös geht es hier zu.

Nun waren fliegende Farbbeutel und fließende Tränen ja schon immer eher etwas für Bundeskonferenzen dieser Partei, der pragmatischen Südwesten kennt solche Aufwallungen nicht. Doch seit sie in Stuttgart die Regierung anführen, sind die baden-württembergischen Grünen noch ein Stück gediegener geworden.

Drinnen im Saal läuft gerade ein stimmungsvolles Video über den Nationalpark Schwarzwald, als Ministerpräsident Winfried Kretschmann unter viel Beifall hinein schreitet. „Wo bleibt die Hymne?“, fragt ein Beobachter scherzhaft seinen Nebenmann, und der antwortet: „So weit kommt’s noch, wir sind doch nicht die CDU.“ Nein, solche Rituale wollen die Ökopaxe nicht übernehmen. Ansonsten aber treten sie gern in die Fußstapfen ihrer Vorgänger.

100 Seite, 420 Änderungsanträge

Mit breiter Brust macht Kretschmann seine Regierungsbilanz auf und skizziert ein paar Pläne für die Zeit nach der Wahl, als gäbe es überhaupt keine Zweifel, dass er nach dem 16. März 2016 Regierungschef bleibt. Alles kulminiert in der Feststellung, dass die Grünen nun dort angekommen seien, wo die CDU jahrelang war: „Wir sind die neue Baden-Württemberg-Partei.“

Sogar den alten Adenauer-Slogan „Keine Experimente“ kramt der 67-Jährige hervor und lobt gönnerhaft ein paar seiner christdemokratischen Vorgänger. Ja, hier hat ein Mann seine Rolle gefunden, das lässt er die Partei spüren. Und die applaudiert dazu stehend, als habe sie nie mit dominanten Vaterfiguren (auch mit Kretschmann) gehadert.

Dass der knorrige Sigmaringer den Grünen-Wahlkampf prägen wird, dass die Partei seine große Beliebtheit nutzt, daran kommt nicht der Hauch eines Zweifels auf. Aber auch die Partei selbst gefällt sich in der Rolle dessen, der in Verantwortung steht und das Ganze im Blick haben will. Das hat ihr zwar nicht die Lust am Debattieren ausgetrieben – immerhin kämpfen sich die Delegierten anderthalb Tage lang mit erstaunlicher Disziplin durch den mehr als 100-seitigen Programmentwurf und arbeiten 420 Änderungsanträge ab. Doch die Südwest-Grünen haben dabei stets im Blick, was auf dem Spiel steht: die Schlüsselgewalt in der Stuttgarter Villa Reitzenstein.

Gymnasium abschaffen? Nicht mit den Grünen

Sanft, sehr sanft entwickelt die Partei in ihrem Landtagswahlprogramm die Regierungspositionen fort. Da gibt es nicht viele Haken und Ösen, und schon gar keine radikalen Forderungen. Ein landesweiter Biotopverbund soll her, mehr Windkraft sei nötig, heißt es. Und dem ländlichen Raum will man eine „Mobilitätsgarantie“ geben.

Auch für ein Zwei-Stimmen-Wahlrecht bei der Landtagswahl, die Direktwahl der Landräte und die Kennzeichnung von Polizisten bei Großeinsätzen spricht sich der Parteitag aus – aber das steht ja bereits in der Koalitionsvereinbarung von 2011.

Nur die Grüne Jugend löckt ab und zu gegen den Stachel – wird dann aber in den meisten Fällen wieder eingefangen, damit kein schräges Bild entsteht von den Grünen draußen beim Wähler der „Mitte“, der doch (so Kretschmann) so gut zu der neuen Baden-Württemberg-Partei passt.

Dass das Gymnasium langfristig zu Gunsten einer Einheitsschule geopfert wird, wie die Jugendorganisation fordert: Nein, das geht nun gar nicht. Vertreter der Landtagsfraktion räumen die Sache ab. Auch mit dem Bildungsurlaub für Auszubildende oder mit der Forderung, gegen Schwarzfahrer und Drogenabhängige nicht mehr strafrechtlich vorzugehen, scheitert der Nachwuchs.

Flüchtlingsthema spielt kaum eine Rolle

Allenfalls die Sperrstunde kann die Grüne Jugend kippen: Wenn die Disco-Gänger um 3 Uhr in der Früh raus müssten, sei das für die Anwohner doch viel lauter als, wenn sie drin blieben, argumentiert ein Redner.

„Das ist kein Regierungs- sondern ein Parteiprogramm“, hatte eingangs die Landtagsabgeordnete Bärbl Mielich gesagt. Doch nur selten läuft es der Regierung zuwider. Am gravierendsten wohl beim Votum, die 16 Landessteuerverwaltungen im Bund zusammenzufassen.

Die Forderung nach einem pauschalen Asylgrund für Roma, weil sie in ihren Herkunftsländern diskriminiert werden, lehnt der Parteitag hingegen ab. Das Thema Flüchtlinge spielt überhaupt nur eine marginale Rolle in Reutlingen. Man ist sich einig, dass Deutschland ein Willkommensland ist und die Herausforderung bewältigt. „Wir haben in Halle erschöpfend darüber diskutiert“, meint die frühere Bundestagsabgeordnete Ingrid Hönlinger, „das Thema ist durch.“

Palmer im hellblauen Anzug

Der Tübinger OB Boris Palmer, der drinnen im Saal seine Kreise zieht, dürfte das ganz anders sehen. Mit seinen provokanten Interviews („Wir schaffen das nicht“) hat er große Teile der Partei verärgert. Doch er ist kein Delegierter, also geht er nicht aufs Podium.

Ohnehin hat er seinen himmelblauen Anzug aus dem Schrank geholt, was signalisiert: Er ist in Sachen Klimaschutz unterwegs. Bei diesem Thema ist er wieder ganz Teil der Familie: „Dieser blaue Planet kann nicht darauf verzichten, den ersten grünen Ministerpräsidenten zu behalten.“