Deutsche und britische Pioniere bauen beim Militärmanöver Anakonda 2016 bei Chelmno eine 350 Meter lange Brücke über die Weichsel. Foto: DPA

31 000 Soldaten üben derzeit in Polen. So viel wie noch nie seit dem Ende des Kalten Krieges in Osteuropa. Warschau betont, es gehe um die Landesverteidigung. Doch Moskau fühlt sich bedroht.

Torun/Chelmno - Seidenpilze wölben sich stundenlang am blauen Himmel. Amerikanische, britische und polnische Fallschirmjäger hasten durchs kniehohe Grün. Ihr Befehl: Auf dem feindlich besetzten Ufer der Weichsel einen ersten Brückenkopf bilden für den Gegenangriff.

31 000 Soldaten aus 24 Staaten, darunter 12 000 Polen, aber auch Nicht-Nato-Mitglieder wie Finnland oder das Kosovo, nehmen an dem polnisch geführten Manöver Anakonda 2016 teil. Und egal, was dessen Organisatoren gebetsmühlenartig beteuern mögen. Natürlich geht es bei der Übung um Russland. Trainiert wird in dieser und der kommenden Woche quer durchs ganze Land. Es ist die größte Militärübung des Westens in Osteuropa seit dem Ende des Kalten Krieges. Die Bundeswehr ist mit 350 Pionieren dabei, allerdings keine Kampftruppen.

Drei Fußballfelder lang

Kampfhubschrauber flappen im Tiefflug über die Soldaten hinweg. Am Heck die Farben der USA und Polens. Aus dem Schutz des Ufergestrüpps preschen Laster. Ihre Schwimmkörper ausgeklappt. Rein in den Fluss. Scheibenwischer kämpfen gegen die Gischt, die auf die Windschutzscheiben klatscht. Soldaten des Mindener Pionierbataillons 130 bauen mit britischen Kameraden ihre Schwimmbrücke: Drei Fußballfelder lang und einen Strafraum breit. Rekord! Schnell gleiten die M3-Schwimmfahrzeuge auf dem zäh fließenden Strom zu ihren Positionen. Die Pioniere verkuppeln die Ungetüme miteinander.

Von einem Zelt am nördlichen Weichselufer bei Chelmno verfolgen hohe Offiziere aus zahlreichen Nato-Staaten das Geschehen. Der schwierigste Teil beim Brückenbau kommt am Ende, wenn das letzte Teilstück mit den beiden langen Stümpfen verbunden werden muss. „Auf dieser Amphibie steht mein bester Mann“, sagt Oberstleutnant Thorsten Schwiering, Kommandeur der multinationalen Pionierkräfte und deutet auf die Mitte des Flusses. Kurz darauf senkt der Fährenkommandeur den Daumen. Beide Flussufer sind jetzt miteinander verbunden. Nach nur 34 Minuten rollen die ersten Schützenpanzer des amerikanischen Heeres zum Angriff.

Kritik in Deutschland

In Deutschland ist die Übung äußerst umstritten. Solche Manöver „setzen auf militärische Eskalation“, kritisierte der Linken-Politiker Jan van Aken in unserer Zeitung. Demgegenüber verteidigte der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen das Vorgehen des Westens. „Die zusätzliche Präsenz ist ein balancierter und angemessener Beitrag, der als Antwort auf die militärische Aggression Russlands nötig ist.“ Dazu müsse auch Deutschland seinen Beitrag leisten. Das Auswärtige Amt möchte aber vermeiden, die Russen weiter zu reizen.

Durchgespielt wird im Krisenszenario die Landesverteidigung in einem hybriden, gemischten Krieg, in dem der Angreifer zu unkonventionellen Methoden greift: schnell operierende Spezialsoldaten ohne Hoheitsabzeichen, die sogenannten kleinen grünen Männchen, und über Medien und Internet gezielt gestreute Fehlinformationen. Ganz wie bei der russischen Invasion auf der Halbinsel Krim. Wie seine Nato-Nachbarn im Baltikum ist Polen über das aggressive Verhaltens Russland besorgt.

Stolze Polen

„Die Polen freuen sich darüber, dass ihre Verbündeten sie unterstützen“, sagt der polnische General Marek Tomaszycki am Randes des weitläufigen Truppenübungsplatzes bei Torun. „Das Manöver soll zeigen, inwieweit wir bereit sind, mit unseren Partnern zusammenzuarbeiten.“ Der 58-Jährige befehligt das Führungskommando der polnischen Streitkräfte. Und was denkt er über die Beteiligung deutscher Soldaten in Gegenden, in denen im Zweiten Weltkrieg Deutsche und Polen blutig gegeneinander gekämpft haben? „Wir wollen so viele deutsche und polnische Soldaten wie möglich miteinander üben sehen.“

Die Polen sind stolz, dass sie es geschafft haben, das große Manöver nur einen Monat vor dem Nato-Gipfel in der Hauptstadt Warschau abzuhalten. Und sie sind froh, dass die USA so kopfstark wie lange nicht daran teilnehmen. Rund 12000 US-Soldaten sind beteiligt. Ein wenig erinnert alles an die großen Reforger-Verlegeübungen im Kalten Krieg: 9000 G.I.s fliegen aus den USA ein. Darunter 500 Soldaten der 82. Luftlandedivision, die mit ihren in der Luft betankten C-17-Transportflugzeugen nach zehn Stunden Flug aus ihrem Heimatstützpunkt Fort Bragg zusammen mit Fallschirmjägern aus Großbritannien und Polen über Toruns Übungsplatz abspringen. Der logistische Aufwand der Amerikaner ist enorm: 500 Gefechtsfahrzeuge und 1000 Laster und Jeeps wurden per Flugzeug, über See und Land nach Polen verlegt. „Das zeigt, dass die USA der Nato und jedem ihrer Mitglieder zum Beistand verpflichtet bleiben“, betont der Kommandeur des US-Heeres in Europa, Ben Hodges.

Soziale Medien: Der Dritte Weltkrieg beginnt

Doch Russland betrachtet das Manöver westlicher Truppen nahe seiner Grenzen als Bedrohung seiner Sicherheit. Größe und Örtlichkeiten des Großmanövers hat bereits zu zornigen Reaktionen Moskaus geführt. So sagte Außenminister Sergej Lawrow nach einem Treffen mit seinem Amtskollegen in Finnland, das ebenfalls an der Übung teilnimmt, sein Land werde auf die verstärkten Aktivitäten von Nato und USA in der Region reagieren. „Wir berufen uns auf Russlands souveränes Recht, seine Sicherheit mit Maßnahmen zu garantieren, die den heutigen Risiken entsprechen.“

Auch in den sozialen Medien wird heftig gewettert. Die Schlange Anakonda wolle Russland abwürgen oder gar den Dritten Weltkrieg einläuten, heißt es dort. Polnische Generäle betonen den rein defensiven Charakter und die große Transparenz bei der Militärübung. „Wir haben unser Land für Russland und Weißrussland geöffnet“, sagt General Tomaszycki mit Blick auf die Einladung von Militärbeobachtern. „Die Balance zwischen Abschreckung und Dialog“ mit den Russen sei schwierig, müsse aber gefunden werden.

Moskau übt den Krieg gegen den Westen

Moskau lehnte die Einladung ab, inspiziert aber auf der Grundlage des Vertrages über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE), obwohl es aus dem vertrauensbildenden Vertrag faktisch ausgestiegen ist. Daneben verzeichnen US-Geheimdienste verstärkte Flüge kommerzieller Kleinflugzeuge und Drohnen – mutmaßlich mit Spionageauftrag. Russland seinerseits, darauf verweisen westliche Militärs, trainiere immer wieder in großen Blitzmanövern den Krieg mit dem Westen und verstärkt sein Militär in seiner Exklave Kaliningrad – ganz ohne Transparenz. „Wurden Sie schon mal zu einem russischen Blitzmanöver eingeladen“, fragt US-General Hodges rhetorisch die versammelte Journalistenschar.

Die Polen nehmen die Bedrohung ihres Landes sehr ernst. Zum ersten Mal nehmen an dem Manöver in diesem Jahr auch 500 Mann paramilitärischer Organisationen teil. Gerade erst verkündete Polens Verteidigungsminister Antoni Macierewiz den Aufbau einer Freiwilligen-Miliz im Herbst. In wenigen Jahren sollen bis zu 35 000 Milizionäre vor allem im Osten des Landes der Armee beim Schutz vor den Russen helfen.

Wie Lego zusammengesteckt

All das kümmert den Bundeswehr-Offizier Schwiering erst einmal wenig. Sein großer Tag findet am kommenden Montag statt, wenn er unter den Augen des polnischen Staatspräsidenten Andrzej Duda und zahlreicher weiterer hoher Besucher noch einmal die Fähigkeiten seiner deutsch-britischen Pioniertruppe an der Weichsel demonstrieren soll. Was denn die größten Probleme beim Bau der Schwimmbrücke mit Soldaten aus verschiedenen Ländern bereite, will ein begeisterter polnischer TV-Reporter von Schwiering wissen: „Das sieht ja aus, als ob Lego-Steine zusammengesteckt werden“, meint der Journalist. Es gebe keine Probleme, gibt der kräftige Pionier mit einem breitem Grinsen zurück: „Alles eine Frage guter Organisation.“ Jetzt gehen die Verbündeten zum Gegenangriff über.