Mehrere zehntausend Menschen in Hannover fordern vor dem Besuch von US-Präsident Barack Obama ein Ende der EU-Freihandelsgespräche. Es sind ganz unterschiedliche Gründe, die mehr Teilnehmer als erwartet angelockt haben. Größte Reizfigur ist für sie SPD-Chef Sigmar Gabriel.
Hannover - Von der Bühne neben der Oper sind die letzten Reihen der Demonstranten nicht zu sehen. „Geht weg“, muss einer der Organisatoren – auch wenn es ihn schmerzt - den Teilnehmern zurufen, weil es einfach zu eng geworden ist auf dem Kundgebungsgelände in Hannover. Es sind zwar nicht die 250000 Menschen, die im vergangenen September in Berlin gegen das Freihandelsabkommen TTIP zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten protestiert und damit die größte Demonstration während der Kanzlerschaft von Angela Merkel auf die Beine gestellt hatten. Imposant ist die Kulisse aber allemal, die auch das Ceta-Abkommen mit Kanada im Visier hat. Von 35000 Teilnehmern spricht die Polizei der niedersächsischen Landeshauptstadt, die „hochzufriedenen“ Veranstalter dagegen von 90000. Als der Demozug an ihm auf dem Lautsprecherwagen vorbeizieht, entfährt es dem linken Bundestagsabgeordneten Diether Dehm: „Das sind locker 100000 Leute.“
Wirklich entscheidend ist die Zahl aber gar nicht, da die Gegnerschaft zu TTIP, wenn man den Umfragen glauben mag, längst keine Minderheitenmeinung mehr darstellt in Deutschland. Einer in diesen Tagen veröffentlichten Umfrage der Bertelsmann-Stiftung zufolge befürworten gerade einmal noch 17 Prozent der Bundesbürger eine transatlantische Freihandelszone, nachdem es vor zwei Jahren noch 55 Prozent waren. Der Anteil der aktiven Gegner ist im selben Zeitraum von 25 auf 33 Prozent geklettert – der Rest hat keine dezidierte Meinung dazu.
Auf den Transparenten sind die unterschiedlichsten Sprüche zu lesen – von eher derb („Haut weg den Dreck“) über witzig („Make love, not Chlorhühnchen“), reimend („Lobbys und Konzerne haben TTIP gerne“) und knackig („TTIP stinkt!“) zu höflich („Stoppen Sie TTIP“). Die mit dem letzten Slogan Angesprochenen sind natürlich Kanzlerin Merkel und US-Präsident Barack Obama, der an diesem Sonntag zum wohl letzten Deutschland-Besuch seiner Amtszeit in Hannover erwartet wird. Zusammen mit Frankreichs Staatschef Francois Hollande, dem britischen Premier David Cameron und dem italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi wollen sie am Montag unter anderem darüber reden, wie es mit TTIP weitergehen soll. Dass sie nach Angaben aus der Brüsseler EU-Kommission auch über ein möglicherweise abgespecktes „TTIP light“ diskutieren wollen, zeigt, dass sie sich des wachsenden Widerstandes dies- und jenseits des Atlantiks sehr wohl bewusst sind.
Die Schiedsgerichte bereiten die größten Bauchschmerzen
Christine Konopka aus dem Rheinland demonstriert zum dritten Mal gegen TTIP. Sie war in Berlin dabei, auch bei einer Kundgebung in Karlsruhe. Sie ist bestens darüber informiert, was über die Einzelthemen und den Verhandlungsstand bekannt ist, und nennt sofort, nach ihrem größten Bauchgrimmen gefragt, die Investitionsschiedsgerichte, vor denen Konzerne die Vertragsstaaten auf Schadenersatz verklagen können. Die Mittfünfzigerin hat auch schon gehört, dass die amerikanische Seite nicht über das Kapitel zu Arbeitnehmerrechten reden will, das die Europäer in die Verhandlungen eingebracht haben. Und sie sorgt sich um das sogenannte „Vorsorgeprinzip“ der EU, wonach eben nicht wie in den USA erst einmal alles erlaubt wird, bis seine Schädlichkeit endgültig bewiesen ist. „Das alles in Kombination wäre für mich der Untergang des Abendlandes“, sagt Christine Konopka in Richtung derer, die die Merkels Flüchtlingspolitik dafür halten.
Absage an Antiamerikanismus
Es ist ein bunter Haufen, der in Hannover zusammengekommen ist, kein brauner. Nachdem sich unter die Berliner Großdemo einst auch viele Rechte gemischt hatten, distanzieren sich mehrere Redner in Hannover klar. „Wer mit Ceta und TTIP antiamerikanische Ressentiments schüren und sein nationalistisches Süppchen kochen will, der ist hier falsch“, ruft etwa Christoph Bautz vom Hauptorganisator Campact der Menge zu: „Hier demonstrieren die Freunde der Bürger Amerikas.“ Schließlich liegt die Zustimmung zu TTIP der Bertelsmann-Stiftung zufolge mit nur 15 Prozent sogar noch niedriger als in Deutschland. Eine derzeit in Hannover lebende Kalifornierin kann das nur bestätigen. „Ich bin nicht wegen meines Präsidenten da, sondern wegen dieser tollen Leute hier“, meint die 37-Jährige. Dass viele Deutsche keine amerikanischen Lebensmittel auf dem Teller haben wollen, kann sie verstehen: „Ich verwende selbst viel Energie darauf, Produkte aus der industriellen Landwirtschaft zu vermeiden.“ Da ist sie ganz eins mit Gerhard Thiel aus Bremen, der mit einer Fahne der Grünen durch Hannover marschiert und sagt: „Ich habe nichts gegen Freihandel. Aber ich habe etwas dagegen und Angst davor, dass Konzerne bestimmen, was wir essen oder trinken.“
Der 21-jährige Andreas aus Hannover beklagt vor allem „die Intransparenz der Freihandelsgespräche“. Er demonstriert zum ersten Mal gegen das Abkommen und ärgert sich darüber, dass Merkel und Obama nur Unternehmer zu ihrem abendlichen Dinner am Sonntagabend auf Schloss Herrenhausen eingeladen haben.
Zentrales inhaltliches Thema der Kundgebung ist die Frage, inwiefern die aktiven TTIP-Gegner Einfluss auf die Parteien in Deutschland nehmen können, damit eine etwaige Ratifizierung des Vertrages im Bundesrat oder eher noch auf im Bundesrat scheitern möge. Die Moderatoren weisen darauf hin, dass in zwölf von 16 Bundesländern Grüne oder Linke mit auf der Regierungsbank sitzen, bevor sie die grüne Bundeschefin Simone Peter, den baden-württembergischen Linken Tobias Pflüger und den Sprecher der SPD-Linken im Bundestag, Matthias Miersch, befragen.
Linke Zweifel an Kretschmanns TTIP-Kurs
Der Linke Pflüger kann sogleich unter großem Applaus zusagen, dass Brandenburg und Thüringen sich enthalten und damit quasi eine Gegenstimme abgeben werden: „Wir wollen keine Wirtschafts-Nato.“ Er behauptet sogleich, dass dies beim grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann aus dem Autoland Baden-Württemberg keineswegs ausgemachte Sache sei. Die Grüne Peter verweist auf einen Beschluss des Landesverbandes und kontert: „Wir Grüne stehen zu unserem Wort, da könnt Ihr Euch auf uns verlassen.“ Sie ruft noch „Stopp Ceta und TTIP“ hinterher und erntet Beifall. Den schwersten Stand hat der Sozialdemokrat Miersch. Er wird gnadenlos ausgebuht, als er eben kein klares Nein zu TTIP verkündet, sondern berichtet, seine Partei würde ihre zum Freihandelsabkommen gesteckten „roten Linien sehr ernst nehmen“ und auf einem Sonderkonvent im Herbst über Zustimmung oder Anlehnung entscheiden. Der Unmut über den SPD-Mann ist so groß, dass der Moderator darauf verweisen muss, dass es doch „unfair“ sei, ausgerechnet die in der SPD auszubuhen, die sich wie Miersch für einen anderen Kurs ihrer Partei einsetzten.
Da ist es nicht mehr weit zu Sigmar Gabriel, dem Bundeswirtschaftsminister und obersten Genossen, der sich zwar erfolgreich bei der EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström für Änderungen am ersten Entwurf des Schiedsgerichtesystems eingesetzt hat, aber TTIP im Grundsatz befürwortet. Ganz abgesehen davon, dass die Amerikaner bisher nicht darüber verhandeln wollen, reicht der neue europäische Vorschlag den Demonstranten nicht. „Ja, ein paar der schlimmsten Auswüchse wurden beschnitten, doch in der Substanz bleibt es bei Sonderklagerechten für Konzerne.“ Gabriel ist aber auch aus einem ganz anderen Grund die Reizfigur für die Hannoveraner Marschierer, weil er vor einigen Monaten den TTIP-Gegner vorgeworfen hatte, im Angesicht der Zukunftsherausforderungen „den Kopf in den Sand zu stecken und sich auf Demonstrationen wohlzufühlen“. Campact-Mann Bautz entgegnet unter dem bis dato größten Gejohle der Demonstranten, unter denen viele enttäuschte Sozialdemokraten sein müssen: „Nein, lieber Herr Gabriel, wir können uns alle Besseres vorstellen, als uns bei diesen lausigen Temperaturen auf Hannovers zugigen Plätzen zu tummeln. Aber wir können, wollen und werden es nicht mit ansehen, wie ausgerechnet ein Sozialdemokrat unsere Demokratie untergräbt.“ Es ist der Stimmungshöhepunkt des Demonstrationstages: „Lieber Herr Gabriel, wir sind hier, um das zu tun, was eigentlich Ihr Job wäre: Unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat zu verteidigen!“
Verglichen damit, kommen die politischen Hauptakteure dieses Wochenendes, Obama und Merkel, noch gut weg. Der US-Präsident, der wie Merkel unmittelbar zuvor noch einmal für TTIP warb, wurde auf einem Transparent eigentlich nur sanft an seinen ersten Wahlkampfslogan erinnert: „Yes, we can – stop TTIP.“