Die Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 war die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. Bis heute ist diese Verfassung Basis und Bindeglied aller in Deutschland lebenden Bürger. Foto: Imago/Future Image

Deutschsein heute – was meint das? Ein wiedererwachtes Nationalbewusstsein? Ein neuer Patriotismus? Eine um sich greifende Fremdenfeindlichkeit? Ein wachsender Vertrauensverlust in den Staat? Nichts dergleichen! Ein Essay zu der aktuellen Diskussion.

Deutschland – die verspätete Nation. Dieses Diktum ist in das politische Unterbewusstsein der Deutschen eingedrungen. „Die verspätete Nation“ (Untertitel: „Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes“) lautet auch der Titel eines zentralen Werkes des Philosophen und Soziologen Helmut Plessner (1892-1985). Im Jahr 1935 erstmals in der Schweiz erschienen, wurde es 1959 in der Bundesrepublik veröffentlicht.

Plessner rekapituliert darin die Entwicklung des deutschen Geistes seit dem 16. Jahrhundert und sucht nach den Gründen, warum vor allem das Bürgertum mehrheitlich bereit war, einen menschenverachtenden Diktator wie Adolf Hitler und sein barbarisches Regime zu unterstützen und ihm bis in den Untergang zu folgen.

Soll die Welt am deutschen Wesen „genesen“?

78 Jahre nach diesem Untergang stellt sich die Frage nach dem „deutschen Wesen“ immer noch – oder schon wieder. „Und es mag am deutschen Wesen / Einmal noch die Welt genesen“, schrieb Emanuel Geibel im Jahr 1861 in seinem Gedicht „Deutschlands Beruf“. Daraus wurde ein politisches Schlagwort, das Konservative und Nationalisten nutzen, um für ihre Machtpolitik zu trommeln.

So beschwor Kaiser Wilhelm II., der von Deutschlands „Platz an der Sonne“ träumte, 1907 dieses Wesen: „Dann wird unser deutsches Volk der Granitblock sein, auf dem unser Herrgott seine Kulturwerke an der Welt aufbauen und vollenden kann. Dann wird auch das Dichterwort sich erfüllen, das da sagt: ‚An deutschem Wesen wird einmal noch die Welt genesen.‘“

Wie halten es die Deutschen mit dem Deutschsein?

Wie halten es die Bürger im wiedervereinigten Deutschland mit dem „Deutschsein“? Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov hat darauf vor einiger Zeit interessante Hinweise gegeben: Auf die Frage „Sind Sie stolz darauf, deutsch zu sein?“ antworteten 70 Prozent der Befragten mit „eher Ja“ (Westdeutsche: 69 Prozent, Ostdeutsche: 75 Prozent) und 14 Prozent mit „eher Nein“ (Westdeutsche: 15 Prozent, Ostdeutsche: 14 Prozent).

Eine aktuelle Umfrage zum wachsenden Vertrauensverlust der Bürger in den Staat stellt diese mehrheitliche Identifikation mit der eigenen Nation keineswegs in Frage. In der am Dienstag (15. August) veröffentlichten Umfrage des Forsa-Instituts für den Deutschen Beamtenbund (dbb) halten nur noch 27 Prozent der Befragten den Staat für fähig, seine Aufgaben zu erfüllen (2022: 29 Prozent). 69 Prozent der Befragten sehen den Staat als überfordert an (2022: 66 Prozent).

Die Umfragewerte markieren vor allem eins: die in der Gesellschaft weit verbreiteten Gefühle der Überforderung, Unsicherheit und Zukunftsangst, nicht aber eine schwindende Akzeptanz des eigenen Heimatlandes.

Was war mit den großen Fragen der Zeit?

Dass Deutschland so verspätet im Konzert der europäischen Mächte mitspielte, hat vor allem mit seiner besonderen Geschichte zu tun. Kriege, politische und territoriale Zersplitterungen, Machtinteressen der Nachbarstaaten, konfessionelle Spaltungen sowie soziale Verwerfungen – all dies machte das Land im Herzen Europas zum Spielball der Mächtigen. Erst 1871 entstand der Nationalstaat – als einem aus Krieg erwachsenen, politischen Konstrukt unter preußischer Führung.

„Nicht durch Reden oder Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen –, sondern durch Eisen und Blut.“ Dieser viel zitierte Satz des preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck vom 30. September 1862 macht deutlich, aus welchem Holz dieser neue Staat geschnitzt war. Das tragische Finale folgte in zwei Schritten, welche die Welt bis in die Grundfesten erschütterten: die Weltkriege 1914 bis 1918 und 1939 bis 1945.

Nach den traumatischen Erfahrungen dieser zweier Weltenbrände und dem Genozid am jüdischen Volk sowie anderer monströser Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus kam der „große Traditionsbruch“, wie es der Soziologe Hans-Georg Soeffner einmal genannt hat. Das Land, das aus den Trümmern dieser Geschichte entstand, war anders. Ein Staat, dessen Fundament eine freiheitlich-demokratische Verfassung und ein Wirtschaftswunder waren.

Sehnsucht nach Friede, Freiheit und Demokratie?

Die Identifikation der Bürger mit der Bonner Republik, der zweiten in der deutschen Geschichte nach der von Weimar, war nicht einem aggressiven, militaristischen Nationalismus, einer menschenverachtenden Rassendoktrin und dem Streben nach vermeintlicher Weltgeltung geschuldet, sondern einem gemeinsamen Wertekanon, dem Respekt vor der Unantastbarkeit der Würde eines jeden Menschen, der Hochschätzung von Friede und Freiheit sowie einem liberalen, toleranten Lebensstil.

Die Mehrheit der Deutschen ist stolz darauf, Verfassungspatrioten zu sein – Bürger einer Kulturnation, Mitgestalter der ersten dauerhaft funktionierenden Demokratie auf deutschem Boden. Das habe mit Nationalstolz im klassischen Sinn nichts zu tun, meint Soeffner. Und mit Rechtspopulismus, Rechtsradikalismus oder noch Schlimmeren erst recht nicht.

Wenn mehr als Zweidrittel der Bundesbürger im Deutschsein etwas Positives sehen, dann ist das ein gutes Zeichen für diesen Staat, der am 23. Mail 1949 mit der Verkündigung des Grundgesetzes gegründet wurde. Fünf Jahre und 16 Tage nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg und dem Ende der braunen Tyrannei.

Angst vor dem Fremden?

Und heute? Gibt es eine „nationale Selbstwiederentdeckung“? Eine Wiedergeburt des Nationalismus? Eine Wiederkehr der finsteren Schatten der Vergangenheit? Der Höhenflug der Rechtspopulisten auch in Deutschland ist ein Faktum. Doch die Gründe dafür sind weniger eindeutig. Große Teile der Menschen, die sich bei Urnengängen oder in Umfragen unter dem Banner der AFD sammeln, würden aus Angst und Unsicherheit wählen, gibt der Soziologe Soeffner zu bedenken. „Das hat aber nichts mit Nationalismus zu tun (. . .), sondern mit Angstgefühlen und einer Definition der eigenen Position durch den Fremden, den man nicht mag. Man weiß, was man nicht sein will, aber man weiß nicht genau, was man ist.“

Beethoven, Goethe, Schiller – und ein wenig Bismarck

Das rechte und rechtspopulistische Wählerpotenzial in Deutschland liegt derzeit (laut diversen Umfragen) bei +/- 20 Prozent. Was wollen diese potenziellen Wähler? Und was will die große Mehrheit der Deutschen? Hans-Georg Soeffner gibt darauf eine eindeutige Antwort: „Man will auf gar keinen Fall wieder das Dritte Reich. Man will aber auch nicht den klassischen Nationalismus. Man will die Kulturnation – Beethoven, Goethe, Schiller und ein wenig Bismarck.“ Und nicht zu vergessen: Neuschwanstein und Heidelberger Schloss, Oktoberfest und Maßkrug, Bayern, Nordsee und Schwäbische Alb, Fußball-Bundesliga, Tatort und technische Innovation „Made in Germany“.