Gerhart Baum war bei Markus Lanz – und zeigte sich tief besorgt. (Archivbild) Foto: IMAGO/teutopress/IMAGO/teutopress GmbH

Der Ex-Bundesinnenminister ist tief besorgt über Antisemitismus – und kritisiert Netanjahu. Was er im ZDF-Talk bei Markus Lanz am Mittwochabend alles zu sagen hatte.

Der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) hat schon unruhige Zeiten miterlebt, aber was derzeit passiert in Deutschland und der Welt, das beunruhigt ihn zutiefst . Über Antisemitismus wollte Markus Lanz mit ihm als alleinigen Studiogast am Mittwochabend sprechen, aber schnell kamen die beiden dann doch auf andere brennende Themen wie die Fragen um Migration, wobei das eine mit dem anderen wohl auch zusammenhängt.

Wo sind meine Freunde?

Die Schrecken der Pogromnacht vom 9. November 1938 habe er als Sechsjähriger nicht bewusst erlebt, so Gerhart Baum, aber er habe später einmal seine Mutter gefragt, wo denn alle seine jüdischen Freunde geblieben seien. Deutschland sieht der Liberale – anders als alle anderen Staaten auf der Welt – in einer besonderen Verpflichtung, sich von Rassismus und Antisemitismus zu distanzieren. Aber derzeit sehe er den „schleichenden Prozess“ einer „Strömung hin zu den Systemverächtern“. Die Bindung des Grundgesetzes lasse nach; und, so Baum, er selbst habe eine Gefahr unterschätzt: „Ein Teil der Migranten ist im Grundgesetz gar nicht angekommen. Der Hass auf Israel ist mitgebracht.“

Es habe einmal eine Schändung der Kölner Synagoge gegeben – Ende der 50er Jahre –, aber jetzt seien unzählige von antisemitischen Gewalttaten und Signalen zu beobachten: in Deutschland und der Welt, selbst an US-Universitäten. Markus Lanz ergänzte, dass Studiogäste schon mehrfach berichtet hätten, dass es unmöglich geworden sei, mit einer Kippa durch Berlin-Neukölln zu laufen.

„Netanjahu müsste weg“

Sicherlich könne man den israelischen Premier Netanjahu kritisieren, so Baum, der sei „ein Unglück für sein Land“, auch hätten die Palästinenser berechtigte Wünsche, aber all das rechtfertige keinen Antisemitismus. Später legte er an der Netanjahu-Kritik noch einmal nach: „Israels bester Politiker war Jitzchak Rabin, aber der ist ermordet worden.“

Netanjahu habe sich seine Koalition nur gezimmert, um seiner eigenen Bestrafung zu entgehen, er besitze keine Glaubwürdigkeit, er habe nichts getan für eine Annäherung an die Palästinenser, und er habe sich rechte Politiker ins Kabinett geholt, die die Siedlungspolitik im Westjordanland forcierten. „Netanjahu müsste weg“, meinte Baum, vor kurzem seien noch Millionen von Israelis gegen ihn auf die Straße gegangen: „Es ist eine unglückselige Situation, dass jetzt dieser Mann verantwortlich ist für die Kriegsführung.“

Herrschaft der älteren Männer?

Was die Innenpolitik in Deutschland anbelangte, da sei man lange auf die Gefahr „von links“ fixiert gewesen, auch in seiner Zeit als Bundesinnenminister (1978 bis 1982). Möglich, dass die Gefahr von Rechtsextremen – die Ermordung eines jüdischen Ehepaares, der Anschlag aufs Oktoberfest, die Wehrsportgruppe Hoffmann (sie wurde von Baum verboten) – nicht stark genug im Bewusstsein gewesen sei. Auf besonders simpel gestrickte Fragen von Markus Lanz, ob die Welt nun in Gefahr sei, weil sie vor allem von älteren Männern regiert werde, die Schaden anrichteten (Putin ist 71, Netanjahu 74 und Trump 77), ging der 91-jährige Studiogast nicht näher ein. Aber einig waren sich beide, dass Antisemitismus auch in der Linken verankert sei, die sich nach dem Hamas-Überfall „durch ein brüllendes Schweigen“ hervor getan habe.

Liberalismus muss „atmen“

Beim Erstarken der Rechtspopulisten und dem wachsenden Antisemitismus sieht Baum gar unsere Demokratie in Gefahr, und er frage sich, wo die politische Bildung eigentlich geblieben sei. Lanz fragte zurück, was denn die FDP – die in Umfragen in Richtung vier Prozent marschiert – getan habe oder tun könne in dieser Situation: „Die FDP muss in der Ampel-Regierung dafür sorgen, dass diese auch funktioniert. Und sie muss dem Liberalismus wieder Atem verleihen.“ Die UN-Menschenrechtserklärung sei jetzt 75 Jahre alt, sie sei in einer „Phase der Besonnenheit“ entstanden, doch selbst sie sei jetzt in Gefahr, zu Bruch zu gehen.

Haft fürs Spucken auf die Kippa

Markus Lanz verwies auf aktuelle Entwicklungen, die die Menschen verstören, beispielsweise auf die Essener Demonstrationen, bei der die Polizei hilflos auf Protestler mit veränderten IS-Fahnen schauen musste und auf Frankreich, wo eine Frau fürs Spucken auf eine Kippa fünf Monate Haft erhielt, um dann gleich die Systemfrage zu stellen: „Was ist die Schwäche unseres Systems? Kommen wir an die Grenzen unserer Demokratie?“

Gerhart Baum sagte, die Ohnmacht sei auch die Stärke des Systems. Man müsse die Freiheiten der anderen aushalten. Diese Stärke, ein freier Staat zu sein, dürfe nicht in Zweifel gezogen werden. Aber es gelte diejenigen zu stoppen, die die Freiheiten hierzulande abschaffen wollten.

Reibungen mit dem Studiogast

Immerhin zweimal geriet der sonst dem Senior so respektvoll gegenüber auftretende Moderator Lanz etwas aus der Fassung und ging Gerhart Baum direkt an: Zum einen hatte Lanz die Vertrauenskrise zwischen Regierung und Volk geschildert, manifest an fehlenden Kita-Plätzen, Unterrichtsausfall, der Migrantenfrage – worauf Baum antwortete, die drei Parteien in der Ampel-Regierung müssten sich zusammenraufen. Sie müssten ihre Politik erklären und auch mal sagen – etwa in der komplexen Migrationspolitik, das „alle raus“ nicht gehe – oder auch mal betonen: „Wir bemühen uns!“ Das aber, so Lanz etwas aufgebracht, „will jetzt keiner mehr hören!“

Die andere Reibung erfolgte, nachdem Baum auf Aussagen des Philosophen Immanuel Kant zur Menschenwürde Bezug genommen hatte und Lanz den Fall eines 500-Einwohner-Dorfes schilderte, das bald 400 Flüchtlinge aufnehmen soll. „Hochbrisant“, befand Gerhart Baum, was dem Moderator aber nicht genügte: „Da geht Vertrauen verloren – und Sie zitieren Kant.“ Was die Migrationspolitik anbelange, da habe die Ampel am Wochenende ja einige Weichenstellungen vorgenommen, meinte Baum. Ihm selbst sei wichtig, dass das Recht auf Asyl „im Kern“ erhalten bleibe. Wie und wie schnell darüber entschieden werde, darüber könne man reden.

Angst vor Wahlsieg von Höcke

Gefahren für die Demokratie in Deutschland – durch ein Erstarken von Rechtspopulisten wie in Ungarn, Polen oder Israel aufgrund von wachsender Unzufriedenheit mit der Politik – sieht Baum zwar latent, aber nicht unmittelbar: „Wir haben ein großes Potenzial. Wir haben schon viele Krisen gemeistert.“ Wegen der AfD wachten jetzt viele Politiker auf. Aber ein Wahlsieg der AfD könne direkte Folgen haben, etwa wenn in Thüringen ein Björn Höcke (AfD) Ministerpräsident werden würde. Möglich sei, dass er dann an Gesetzen zum Verfassungsschutz herumschraube. ZDF-Moderator Lanz erwähnte die Möglichkeit, dass Thüringen bei einem AfD-Sieg den Medienstaatsvertrag kündigen könnte. Es bestehe eine „Verführungsmöglichkeit“ zur Unfreiheit, meinte Baum. Die Leute wählten manchmal, wer ihnen schade.

Der Liberale war sich mit Lanz einig in der Ansicht, dass der Hass im Internet die „bösartigen Debatten“ fördere. Jeder ziehe sich in „seine eigene Öffentlichkeit“ (Baum) zurück, und jeder könne dank des Internets sein „eigener Chefredakteur“ (Lanz) sein. „Wir verlieren eine gemeinsame Öffentlichkeit. Wir brauchen wieder eine Verständigungsgemeinschaft.“ An Ende nach einer wichtigen Leitlinie gefragt, sagte Baum: Das Wichtigste sei, zu begreifen, dass es andere Meinungen gebe, dass keiner den Stein der Weisen besitze. Wer in die Öffentlichkeit strebe, der solle möglichst im Team arbeiten, das gebe Kraft und Stärke. Und es sei unabdingbar, sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen: „auch wenn die weit weg sind.“