Großeinsatz in aller Frühe: Fast 300 Flüchtlinge sind kontrolliert worden, 27 haben sich widersetzt und wurden zunächst in Gewahrsam genommen. Foto: SDMG, Getty, dpa

Nach der misslungenen Abschiebung eines 23-jährigen Togolesen haben am Donnerstag Hunderte Polizisten das Flüchtlingsheim in Ellwangen gestürmt. Sie führten mehrere Afrikaner in Handschellen ab. Einige Bewohner sowie ein Polizist wurden verletzt.

Ellwangen - Auf dem Hof der ehemaligen Ellwanger Reinhard-Kaserne stehen mehrere Dutzend Mannschaftswagen der Polizei in Reih und Glied. Beamte in schwerer Einsatzmontur und maskiert mit Sturmhauben führen einen afrikanischen Flüchtling zu einem kleinen Flachdachbau, in dem das Stuttgarter Regierungspräsidium seine Außenstelle unterhält. Der junge Mann trägt eine viel zu warme Felllederjacke, seine Hände sind mit Kabelbinder gefesselt. Auf einem Mäuerchen sitzen weitere Flüchtlinge und beobachten die Szene, ein paar stehen im Kreis und unterhalten sich, andere hocken auf einem Rasenstück. Früh am Morgen habe plötzlich die Polizei im Zimmer gestanden, erzählt einer. Ihn hätten sie nicht mitgenommen, aber ein Freund sei noch in dem Gebäude, sagt er und deutet auf die gegenüberliegende Halle. Früher diente sie der Bundeswehr zur Instandhaltung ihrer Panzer, dann befand sich darin die Notunterkunft der Landeserstaufnahmeeinrichtung (Lea). Jetzt warten dort die Festgenommenen auf ihre Vernehmung.

Derweil sitzt der stellvertretende Leiter des Aalener Polizeipräsidiums Bernhard Weber eine Halle weiter und zieht vor den aus ganz Deutschland angereisten Medienvertretern eine erste Bilanz der Großrazzia in der Ellwanger Lea, mit der der Rechtsstaat Härte zeigen möchte. Am Montag hatte sich die Polizei noch zurückziehen müssen, als mehr als 150 Flüchtlinge mit Gewalt die Abschiebung eines 23 Jahre alten Togolesen nach Italien verhinderten. Nur vier Beamte hatten den Routinefall abwickeln sollen. Drei Tage später kehrt die Polizei mit mehreren Hundertschaften, zehn Polizeihunden und einem Dutzend Spezialisten des Landeskriminalamtes zurück.

Mehrere Flüchtlinge sind aus dem Fenster gesprungen

Von den 490 Menschen, die laut der Stadtverwaltung in der ehemaligen Kaserne untergebracht sind, habe man 292 kontrolliert. 27 hätten sich widersetzt und seien zunächst in Gewahrsam genommen worden, so Weber. Elf Flüchtlinge seien verletzt worden, unter anderem weil sie aus Fenstern gesprungen waren. Auch ein Polizist verletzte sich bei dem Einsatz, allerdings nicht aufgrund von Gewalteinwirkung, wie es heißt. Bei fünf Bewohnern habe die Polizei Rauschgift gefunden, 18 Personen hätten Geldbeträge oberhalb des Freibetrags von 350 Euro bei sich gehabt. Auch den 23-Jährigen, an dessen Fall sich der Zorn entzündet hatte, habe man festgenommen. Die Beamten fanden ihn in seinem Bett.

Es habe die Gefahr bestanden, dass sich in der Lea ein rechtsfreier Raum herausbilde, rechtfertigt Weber den Großeinsatz. „Das wollten wir nicht zulassen.“ Der Gegenschlag habe allerdings umfangreicher Vorbereitungen bedurft, sagt der Einsatzleiter Peter Hönle. So habe es Hinweise gegeben, dass die Flüchtlinge mit einer Reaktion der Polizei gerechnet und sich darauf vorbereitet hätten – erst recht nachdem der Vorfall publik geworden war und bundesweite Empörung ausgelöst hatte. So sei die unverhohlene Drohung im Raum gestanden: Wenn die Polizei wieder erscheint, wird sie nicht noch einmal so glimpflich davonkommen, sagt Weber. Eine Quelle nennt er nicht. Bei der Razzia ergeben sich nach ersten Erkenntnissen keine Hinweise in dieser Richtung. Es seien keine Waffen gefunden worden. Auch waffenähnliche Gebrauchsgegenstände wie Küchenmesser oder Stuhlbeine habe niemand bereitgelegt. Der Einsatzleiter schreibt dies dem Überraschungseffekt zu. Man habe gegen 5.15 Uhr schlagartig und zeitgleich drei der fünf Wohngebäude umstellt. Nur die beiden Häuser, in denen unbeteiligte Familien wohnen, habe man von der Maßnahme ausgenommen.

Polizei bezeichnet das Verhalten des 23-Jährigen als auffällig

Am Montag waren es hingegen die Flüchtlinge gewesen, die ebenfalls zu nachtschlafender Zeit den Überraschungseffekt auf ihrer Seite hatten. Die polizeiinterne Auswertung des Vorfalls habe Hinweise ergeben, dass sich innerhalb der Bewohnerschaft Strukturen herausgebildet hätten, die darauf abzielten, Maßnahmen der Polizei zu unterlaufen. So hätten die Flüchtlinge per Smartphone eine Infokette aufgebaut, so dass in Minutenschnelle immer mehr Bewohner zusammenliefen. Auch das Verhalten des 23-Jährigen sei auffällig gewesen. Er habe sich betont kooperativ gezeigt, dabei aber auf Zeit gespielt. Er habe vorgegeben, noch bestimmte Dinge erledigen zu wollen, sagt Hönle.

Zwei Kilometer stadteinwärts sitzt Pater Reinhold Baumann in seinem Arbeitszimmer und schüttelt den Kopf. Er glaube nicht an eine konzertierte Aktion oder gar mafiöse Strukturen in der Lea, sagt der 79-jährige Sprecher des Ellwanger Freundeskreises Asyl. Lange war er bei seinem Comboni-Orden in der Mission aktiv. Jetzt arbeitet er ehrenamtlich mit den Flüchtlingen. Gerade viele Männer aus Schwarzafrika seien verzweifelt. „Die Menschen haben sich falsche Hoffnungen gemacht und sind unter großem Einsatz hierhergekommen. Ihre Familien haben Erwartungen in sie gesetzt. Wenn sie abgeschoben werden, kommen sie als Gescheiterte zurück.“ Er wolle den Vorfall nicht rechtfertigen, aber er sei erklärbar und auch nicht überraschend.

Rädelsführer sollen verlegt werden

In den vergangenen Wochen habe es sogar Pläne für eine Demonstration in der Ellwanger Innenstadt gegeben. Man habe sich dann darauf geeinigt, dass sechs Afrikaner bei einer Pressekonferenz über ihre Situation sprechen dürften. Eigentlich sollte sie am Donnerstagmorgen stattfinden. Durch die Entwicklungen der vergangenen Tage kam es dazu aber nicht.

Wie viele Männer nun in Haft kommen, ist offen. Dies hänge von der strafrechtlichen Beurteilung ihrer Widerstandshandlungen ab. Fest steht, dass 15 mutmaßliche Rädelsführer auf andere Erstaufnahmeeinrichtungen verteilt würden. Mit einer solchen Maßnahme habe man in der Vergangenheit gute Erfahrungen gemacht, sagt Thomas Deines vom zuständigen Regierungspräsidium Stuttgart.

Klar sei, dass es auch in Zukunft Abschiebungen geben werde, versicherte Einsatzleiter Hönle. Bis auf Weiteres werde man für solche Einsätze aber nicht mehr nur zwei Streifenwagen einteilen. „Wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass man die Polizei mit einer organisierten Übermacht in die Flucht schlagen kann, hätte das verheerende Folgen.“