Ein völlig überfülltes Flüchtlingsboot befindet sich auf dem Mittelmeer auf dem Weg nach Italien. Viele Flüchtlinge wollen dort aber nicht bleiben Foto: dpa

Die Lage in ihren Heimatländern treibt immer mehr Menschen zur Flucht. Viele von ihnen fliehen noch ein zweites Mal – aus Italien nach Deutschland. Sie berichten von schlimmen Verhältnissen auf Lampedusa und anderswo. Und gehen häufig Schleppern ins Netz.

Stuttgart - Richard steht auf und geht im Zimmer umher. Zu sehr treibt ihn das, was er erzählt, noch immer um. Obwohl er hier, in einer Stuttgarter Flüchtlingsunterkunft, zumindest für den Moment sicher ist. Richard berichtet über die Zeit, die er in Italien verbracht hat. Und er sagt: „Dieses Land kann nicht zu Europa gehören. Dort herrschen Verhältnisse wie in Afrika.“

Richard kommt aus Nigeria und heißt in Wirklichkeit anders. Genauso wie Jay, der mit am Tisch sitzt. Der junge Mann stammt aus Gambia und hat wie Richard eine lange Flucht hinter sich. Beide sind, wie viele andere, mit einem Boot in Italien gelandet. Und damit in der EU. Beide hätten deshalb dort Asyl beantragen müssen, Richard hat es sogar getan. Und dennoch haben es beide dort nicht ausgehalten und sind ein zweites Mal geflohen. Über die Alpen, nach Deutschland.

„Ins Paradies“, wie Jay sagt. Denn: „Hier darf ich sogar in die Schule gehen.“ Ein ungewohntes Gefühl für den jungen Kerl, der passabel Englisch spricht.

Immer mehr Flüchtlingen geht es wie diesen beiden. In Südeuropa, speziell in Italien, wollen sie nicht bleiben. Deutschland, Niederlande oder Schweden heißen ihre Ziele. Länder, in denen sie besser behandelt werden. Das haben sie von anderen gehört und im Fernsehen mitbekommen.

Wenn die Behörden erkennen, dass die Leute aus einem anderen EU-Land eingereist sind, müssten sie sie eigentlich im Zuge des Dublin-Abkommens dorthin zurückbringen. Die Rückführung allerdings ist in der Praxis eher die Ausnahme. Nach Recherchen der Stuttgarter Nachrichten müsste mindestens ein Drittel der Flüchtlinge in Baden-Württemberg in einem anderen EU-Land Asyl beantragen. Die Bundespolizeidirektion Stuttgart, die für Baden-Württemberg zuständig ist, hat in diesem Jahr bis Ende Oktober 7383 illegal eingereiste Flüchtlinge aufgegriffen, zumeist in Zügen aus Italien. Im gesamten Jahr 2013 sind es nur 2800 gewesen. Die Zahlen schießen in die Höhe.

das letzte Geld den Schleppern gegeben

Viele der Leute haben ihr letztes Geld aufgewendet, um es Schleppern zu geben. Vor einigen Monaten sind in München in einem Zug aus Verona auf einen Schlag 146 Flüchtlinge gefunden worden – sicher kein Zufall. Die Kontrollen sind auch in Baden-Württemberg erhöht worden. „Nicht um den Flüchtlingen Probleme zu machen, sondern um die Hintermänner zu kriegen“, betont ein Sprecher der Bundespolizei. 124 Schleuser sind in diesem Jahr bisher im Land festgenommen worden. Das ist im Vergleich zum Vorjahr mehr als das Doppelte.

Auch Richard und Jay müssten eigentlich in Italien sein. Deshalb wollen sie ihre echten Namen oder Fotos von sich nicht in der Zeitung sehen. Denn der Weg zurück wäre für sie ein Horror. „Diese Vorstellung macht mich verrückt“, sagt Jay, „ich könnte dort nicht bleiben.“ Er hat seine Heimat Gambia verlassen, „weil es dort keine Freiheit gibt und man nicht seine Meinung sagen kann“. Wer zum Beispiel auch nur unter den Verdacht gerate, homosexuell zu sein, verschwinde für Jahre im Gefängnis.

Deshalb hat er sich auf den Weg gemacht. Als Mitfahrer in Autos und zu Fuß durchquerte er monatelang den Senegal, Mali und Algerien. In Libyen hat er ein halbes Jahr lang für einen Mann gearbeitet, der ihn nicht dafür bezahlen wollte. „Stattdessen hat er mich eines Morgens einfach zu einem Boot gebracht. Er wollte mich loswerden“, erzählt Jay. Gemeinsam mit 95 anderen Afrikanern schipperte er in einer Nussschale drei Tage lang übers Meer. „Es gab kaum zu essen und zu trinken“, erinnert er sich.

Statt Essen Aufforderung zur Prostitution

Viel besser wurde seine Situation allerdings nicht, als er auf der italienischen Insel Lampedusa ankam. „Dort gab es massenhaft Leute, aber keinen Platz zum Schlafen. Niemand hat sich um uns gekümmert“, sagt Jay. Auch Richard schildert solche Szenen: „Ich war in einem von sieben Booten unterwegs. Wir haben mit der Hand das Wasser herausgeschöpft. Auf Lampedusa gab es dann kaum etwas zu essen.“ Ein Landsmann Richards, der in einer anderen Stuttgarter Unterkunft wohnt, berichtet gar, er sei dort aufgefordert worden, seine Frau auf den Strich zu schicken, wenn er überleben wolle. „Es war schrecklich“, sagt der Mann.

Die kleine Insel zwischen Tunesien und Sizilien ist in den vergangenen Jahren zum Inbegriff des Flüchtlingselends geworden. Zahllose Menschen haben versucht, per Boot den ersten Außenposten der EU zu erreichen. Amnesty International schätzt, dass seit 2008 insgesamt 21 000 Menschen beim Versuch, dort und anderswo das Mittelmeer zu überqueren, gestorben sind. Vor gut einem Jahr kamen vor Lampedusa über 300 Menschen ums Leben, als ein Boot in Sichtweite der Küste kenterte.

Das nur 20 Quadratkilometer große Eiland mit seinen 4000 Einwohnern ist mit der Flüchtlingswelle überfordert. Als vor Weihnachten 2013 Bilder von Misshandlungen öffentlich wurden, schloss der Staat das größte Auffanglager. Die Bürgermeisterin Giusi Nicolini sprach entsetzt von Zuständen wie in einem Konzentrationslager. Heute werden die meisten Flüchtlinge, die von der Küstenwache aufgegriffen werden, direkt nach Sizilien oder aufs Festland gebracht.

Wovor soll ich noch Angst haben?

„Dort ist es aber nicht besser“, sagt Richard. Obwohl in Italien anerkannt, lebte er auf der Straße. „Die einzige Arbeit, die sie für dich haben, ist das Betteln“, kritisiert er.

Jay erzählt von einem Camp auf Sizilien, wo er mit 7000 anderen Flüchtlingen drei Monate lang hausen musste. „Dort ist es dasselbe wie auf Lampedusa: Es gibt keinen Schlafplatz und wenig zu essen.“ Beide stiegen deshalb irgendwann in einen Zug nach Deutschland. Angeblich haben sie keinen Schlepper bezahlt. Jay wurde in der Schweiz von der Polizei aufgegriffen und floh schließlich zu Fuß über die Grenze.

Beide Afrikaner fürchten nichts mehr als den Weg zurück nach Italien. In diesem Fall werde er versuchen, erneut nach Deutschland zu kommen, sagt Richard und geht wieder aufgeregt durchs Zimmer. Was auch immer ihm dabei zustoßen könne, sei ihm egal: „Ich habe seit Jahren meine Kinder nicht gesehen. Wovor soll ich noch Angst haben?“

Info

Am Samstag, 29. November, trifft sich im Haus der Katholischen Kirche Stuttgart eine illustre Runde, um über die Lage der Flüchtlinge in Europa zu diskutieren. Von 17 Uhr an sitzen in der Königstraße 7 auf dem Podium: Giusi Nicolini, Bürgermeisterin der Insel Lampedusa, Asylpfarrer Werner Baumgarten, Fritz Weller, Bereichsleiter Migration und Integration beim Caritasverband für Stuttgart, und Antonio Russo, Leiter der Abteilung Immigration bei der Christlichen Arbeiterbewegung Italiens (ACLI).

Moderiert wird das Gespräch von Christoph Reisinger, Chefredakteur der Stuttgarter Nachrichten. Gastgeber sind das Italienische Kulturinstitut Stuttgart und der ACLI Baden-Württemberg.

Um die Not der Flüchtlinge in Süditalien geht es auch bereits tags zuvor. An diesem Freitagabend führt die Theatergruppe Teatralia Europa die szenische Lesung „Lampedusa, 3. Oktober 2013“ in deutscher Sprache auf. Beginn ebenfalls im Haus der Katholischen Kirche in der Königstraße ist um 19.30 Uhr. Der Eintritt ist frei, Spenden sind erbeten. Sie gehen an den Arbeitskreis Asyl in Stuttgart. (StN)