Frankreichs Präsident Macron (rechts) empfing Ungarns Premier zum Abendessen. Zur Verbesserung der Stimmung hat das Treffen allerdings nicht beigetragen. Foto: dpa/Michel Euler

Die EU-Kommission gibt eingefrorene Milliardenhilfen für Ungarn frei. Budapest soll nun das angedrohte Veto gegen die Ukraine-Hilfe zurückziehen. Das zumindest hoffen die Staats- und Regierungschefs, die sich in Brüssel zum Gipfel treffen – sicher ist das allerdings nicht.

Gipfeltreffen in der EU sind keine Vergnügungsreisen. Die Staats- und Regierungschefs ringen über viele Stunden um die kleinstmöglichen Kompromisse, die im Vorfeld von unzähligen Beamten in wochenlanger Arbeit vorbereitet wurden. Am Ende steht meist eine diplomatische Abschlusserklärung, die niemanden als eindeutigen Verlierer, aber auch keinen als großen Sieger aussehen lässt. Brüssel wird deshalb auch gerne als gigantische Konsensmaschine bezeichnet.

Auf diese gutgeschmierte Art könnte auch der letzte Gipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs in diesem Jahr in Brüssel ablaufen – gäbe es nicht Viktor Orbán. Denn der ungarische Premier hat schon vor Tagen offen angedroht, das Treffen platzen zu lassen.

Orbáns längst bekannte Querschüsse

In Brüssel ist man solche Querschüsse aus Budapest bereits gewohnt. Schon im vergangenen Dezember wollte Orbán beim entscheidenden Gipfel ein 18-Milliarden-Hilfspaket für die Ukraine verhindern, stimmte dann allerdings doch zu. Dieses Mal geht der ungarische Premier aber wesentlich weiter. Natürlich dreht sich wieder vieles ums Geld. Orbán stemmt sich gegen den Vorschlag der EU-Kommission, die Ukraine mit weiteren milliardenschweren Militär- und Wirtschaftshilfen in ihrem Abwehrkampf gegen Russland zu unterstützen.

Wesentlich explosiver ist aber seine unverblümte Forderung, die politische Haltung der Europäischen Union gegenüber Kiew grundsätzlich über den Haufen zu werfen. Geplant war nämlich, dass die EU beschließt, die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu eröffnen. Das aber sieht Viktor Orbán als großen Fehler. Das Land sei auf vielen Ebene schlicht nicht reif dafür, weshalb er sein Veto einlegen werde.

Emmanuel Macrons Gänseleber-Diplomatie

Die Tragweite dieser Drohung war in Brüssel schnell erkannt, weswegen man in aller Eile den großen diplomatischen Apparat in Gang setzte. EU-Ratspräsident Charles Michel reiste nach Budapest, um den Premier umzustimmen, musste aber unverrichteter Dinge wieder abziehen. Danach versuchte es der französischen Präsident Emmanuel Macron mit einer Art Gänseleber-Diplomatie und lud Orbán zum prunkvollen Abendessen in den Elysee-Palast ein. Der spuckte dem Gastgeber allerdings förmlich in die Suppe, denn nach dem Essen gab der ungarische Gast der französischen Zeitschrift „Le Point“ ein Interview und formulierte den zentralen Satz: „Die Ukraine ist eines der korruptesten Länder der Welt.“ Ein EU-Beitritt sei aus diesem Grund ausgeschlossen.

Dass Viktor Orbán ausgerechnet die Korruption im Fall der Ukraine als Totschlagkriterium gegen einen Beitritt anführt, löste in Brüssel einiges Erstaunen aus. Denn in Sachen Korruption steht Ungarn selbst am Pranger. Die EU hält Subventionen in Milliardenhöhe zurück, weil der Verdacht besteht, dass europäische Haushaltsmittel in dunklen Kanälen versickern. Weitere Milliarden sind eingefroren, weil der Regierung in Budapest vorgeworfen wird, die Demokratie und den Rechtsstaat auszuhöhlen. Aber auch bei der Asylpolitik oder den Rechten sexueller Minderheiten verstößt Ungarn weiterhin gegen Europas Grundrechtecharta, wie aus einem aktuellen Bericht der EU-Kommission hervorgeht.

Ungarn ist auf das EU-Geld angewiesen

Viktor Orbán aber ist auf die Hilfen aus Brüssel angewiesen, was den Verdacht nährt, dass er mit seiner Blockadehaltung vor allem auf das eingefrorene Geld scharf ist. Der grüne Europaabgeordnete Daniel Freund wirft dem Ungarn deshalb offen vor, die EU „erpressen“ zu wollen. Und Freund muss am Mittwoch zerknirscht einräumen: „Die Erpressung von Viktor Orbán zahlt sich aus.“ Die EU-Kommission gab am Mittwochabend zehn Milliarden Euro für Ungarn frei - trotz anhaltender Kritik an der Rechtsstaatlichkeit in dem Land. EU-Justizkommissar Didier Reynders erklärte, Ungarn habe mit den jüngsten Justizreformen alle vereinbarten Anforderungen erfüllt und es gebe nun ausreichend Garantien dafür, dass man sagen könne, die Unabhängigkeit der Justiz in Ungarn werde gestärkt. Die heutige Entscheidung sei jedoch nicht das Ende des Prozesses. Man werde die Lage weiterhin aufmerksam beobachten und frühzeitig reagieren, falls es Rückschläge geben sollte.

„Ich halte das für ein fürchterliches Zeichen“, empört sich Daniel Freund und fordert angesichts der anhaltenden Defizite weiter ein härteres Vorgehen gegen Ungarn, bis hin zum Entzug des Stimmrechtes für das Land bei EU-Entscheidungen. „Von der Leyen zahlt das größte Bestechungsgeld in der Geschichte der EU an den Autokraten und Putin-Freund Viktor Orbán“, lautet das vernichtende Urteil Daniel Freunds.

Auffallend ist, wie selbstbewusst Orbán inzwischen gegen Brüssel auftritt und wie offen in Ungarn auch von Seiten der Regierung gegen die EU gehetzt wird. Zuletzt wurde im gesamten Land eine antisemitisch angehauchte Plakataktion gestartet, auf der Ursula von der Leyen offen verunglimpft wird. Offensichtlich sieht sich der Premier mit seiner EU-ablehnenden Haltung auf der Gewinnerstraße und am Beginn einer national-konservativen Zeitenwende in Europa. In vielen EU-Ländern sind seine Gesinnungsgenossen auf dem Vormarsch.

Die Populisten sind auf dem Vormarsch

In Italien regiert seit über einem Jahr die Postfaschistin Giorgia Meloni und in der Slowakei macht sich der neue Regierungschef Robert Fico nach dem Vorbild Orbáns daran, den Rechtsstaat umzubauen. In den Niederlanden strebt mit Geert Wilders ein Mann an die Macht, der mit Orbán die Abneigung gegen die Ukraine und die Faszination für Russland teilt. Alle zusammen hegen die Hoffnung, dass im kommenden November in den USA Donald Trump zum Präsidenten gewählt wird. Polen ist in Orbáns Augen wohl ein demokratischer Betriebsunfall. Dort wurde die national-konservative PiS-Partei bei der Wahl zwar zur stärksten Kraft, musste die Macht dann aber doch abgeben, weil sie keine Koalition zustande brachte.

Hinter den Kulissen bereiten sich in Brüssel die Diplomaten offensichtlich bereits auf das Worst-Case-Szenario vor. Sollte Viktor Orbán den nun freigegebenen Gelder den Gipfel tatsächlich platzen lassen, würde man versuchen, ohne Ungarn zumindest einen Teil der geplanten 50 Milliarden Euro für die Ukraine zusammenkratzen. Von 17 Milliarden Wirtschaftshilfe in vier Jahren ist die Rede. Was in diesem Fall mit der versprochenen Militärhilfe passieren würde, steht auf einem anderen Blatt. Vermieden werden soll aber auf jeden Fall der Eindruck, dass die Europäische Union im Kampf gegen Russland nicht mehr aufseiten der Demokratie und damit hinter Kiew steht.