Einfach zu laut? Oder interessantes Erlebnis mit der eigenen Stimme? Foto: imago/Panthermedia/AndreyPopov

Quengelt der Nachwuchs, ist unwillig und zänkisch? Wie ein Perspektivwechsel Eltern hilft, Kinder im Streitfall besser zu verstehen.

Gefühlt hundert Mal am Tag flammen Konflikte mit Kindern auf, die Eltern vor echte Rätsel stellen. Wenn dann auch die Zeit drängt, reicht es nur zu oberflächlichen Erkenntnissen.

Drei Beispiele

Leonie macht einen ausgeglichenen Eindruck, als der Vater zum Kindergarten kommt. Fröhlich spielt sie mit zwei Kindern. Doch als sie ihre Schuhe anziehen soll, gibt es ein Drama. Leonie will nicht. Sie schreit und tobt und schleudert den Schuh gegen die Wand. Der Vater wird wütend. So geht das nicht!

Jakob und sein kleiner Bruder verstehen sich eigentlich gut. Heute hat Jakob ein paar Freunde eingeladen. Jetzt ärgert er seinen kleinen Bruder und macht sich über ihn lustig. Obwohl die Mutter ihn warnt, hört er damit nicht auf.

Fatima will nicht schlafen. Kaum entfernen sich Mutter oder Vater aus dem Kinderzimmer, steht sie wieder auf und schleicht sich zurück ins Wohnzimmer. Wenn sie erwischt wird, kichert sie provokant.

Was ist da los?

Die Eltern sehen Konfliktsituationen allgemein so: Das Kind will sich einfach querstellen. – Es buhlt um Aufmerksamkeit. – Es will uns ärgern. Doch sind diese Interpretationen richtig? „Es lohnt sich, genauer hinzuschauen“, weiß Carina Thiemann, Autorin des Elternratgebers „Ich fühle was, was du nicht siehst“ (Kösel-Verlag). Sie wird nicht müde, Eltern ans Herz zu legen, die Perspektive zu wechseln.

Und meint damit schlicht: sich zu erinnern, wie es sich anfühlt, klein zu sein. Sich Situationen zu vergegenwärtigen, in denen sie sich als Kind ähnlich verhalten haben. Und vor allem: sich hier und jetzt in das eigene Kind einzufühlen. Wie erlebt es den Alltag und all die Konflikte mit Eltern, Gleichaltrigen und Erziehenden?

Oft ist es gar nicht so einfach zu sehen, was eigentlich nicht sichtbar ist. „Das ist wie bei einem Eisberg“, erklärt die Erzieherin, Sozialpädagogin und systemische Familientherapeutin. „Da ragt auch nur die Spitze heraus, der voluminöse Eisklotz liegt verborgen unter der Wasseroberfläche.“ Der Eisberg gilt als Symbol für die Kommunikation. Seine Spitze steht für das sichtbare Verhalten.

Aber die Gedanken und Motive für das Verhalten, die Bedürfnisse und Gefühle, liegen erst mal im Verborgenen. Diese herauszufinden ist Voraussetzung, um sich in Konfliktsituationen nicht ratlos und ohnmächtig zu fühlen, sondern souverän und friedvoll reagieren zu können.

Ein Perspektivwechsel muss her

„Drei Fragen können sich Eltern stellen: 1. Welches Verhalten beobachten sie – ohne zu bewerten? 2. Was fühlt das Kind? 3. Auf welches Bedürfnis verweist das Gefühl?“, erklärt Carina Thiemann. „Wer diesen Fragen nachgeht, stellt schnell fest, dass sich die Situationen nun schon anders darstellen.“

. . . dann ist Leonie im Kindergarten gerade ganz im Hier und Jetzt. Hoch konzentriert treibt sie mit zwei anderen Kindern das Rollenspiel voran, in dem sie selbst eine Katze ist. Das Spiel ist mächtig aufregend, doch die Kooperation verlangt ihr auch viel Kraft ab. Als Papa kommt, fühlt sie sich noch immer als Katze. Da kann sie doch keinen Schuh anziehen! Sie ist plötzlich ganz erschöpft, aber Papa gibt nicht nach. Sie will den Schuh einfach loswerden und wirft ihn weg. „Vielleicht fehlt Leonie Sicherheit, sie kann nicht vorhersehen, was passiert, wenn Papa sie abholt – wie läuft das ab?“, sagt Carina Thiemann.

. . . dann hat Jakob folgenden Satz schon oft von seiner Mutter gehört: „Du musst lieb zu deinem Bruder sein, er ist jünger und versteht viele Dinge noch nicht.“ Jakob empfindet die Rücksichtnahme als ganz schön ungerecht. Seine Freunde verlangen das nicht von ihm. Die stehen auf seiner Seite. Von ihnen bestärkt, kann Jakob heute manche offene Rechnung mit dem Bruder begleichen. Was Jakob fehlt, sind entwicklungsgerechte Erfahrungen. „Die Mutter dürfte noch genauer beschreiben, was sie unter lieb sein versteht – die genauen Erwartungen an ihn kann Jakob womöglich gar nicht erkennen“, so Carina Thiemann. „Und vielleicht braucht Jakob auch Unterstützung bei der Lösung von Konflikten mit dem Bruder.“

. . . dann liebt Fatima es, im Bett mit Mama oder Papa zu kuscheln. Aber kaum sind sie weg, fühlt sie sich allein. Die anderen sind doch auch zusammen! Sie will bei ihrer Familie sein, vor allem jetzt, wo es dunkel ist. Fatima braucht abends Zuwendung, Sicherheit und Verbindung.

Und nun?

Haben Eltern ein Gefühl dafür, worum es im Konflikt eigentlich geht, ist der Weg aus dem Konflikt heraus viel leichter zu finden. Es gelten drei Grundsätze:

1. Bedürfnis erfüllen

Hunger? Durst? Dringender Bewegungsdrang? Sehnsucht nach Zuwendung und Aufmerksamkeit? „Ist der Tank leer, muss zuerst aufgefüllt werden“, erklärt Carina Thiemann. „Denn ein Kind mit unerfülltem Bedürfnis wird immer schwerer kooperieren als ein zufriedenes Kind.“

2. Das Kind ins Bild setzen

Ein Kind muss wissen, was passieren soll, damit es sich orientieren und mitmachen kann.

3. Gefühle dürfen sein!

Kinder dürfen fühlen, was sie fühlen! Und sie dürfen dem auch Ausdruck geben. Wenn das Kind wütet oder weint, heißt es: zuhören und Verständnis für die Gefühle zeigen. Das heißt nicht, dass Pläne geändert werden müssen.

Nach dem Perspektivwechsel

Wenn diese drei Schritte gelingen, könnten Leonie, Jakob und Fatimah und ihre Eltern die Beispielsituationen so erleben:

Der Papa von Leonie könnte ihre Erschöpfung verstehen und sie dazu einladen, sich nach dem anstrengenden Kitatag in seine Arme fallen zu lassen und sich die Schuhe anziehen zu lassen. Carina Thiemann: „So könnte der Bindungstank etwas gefüllt werden und der Rest des Tages friedlicher ablaufen.“

Jakob und seinem Bruder könnte es guttun, wenn sie in ihren Konflikten ein wenig begleitet werden. „Das heißt nicht, Lösungen für die Kinder zu finden, sondern eher zu moderieren und beizustehen“, erklärt Carina Thiemann. „Kinder üben erst noch, Konflikte friedlich zu lösen.“

Und Fatima? Sie braucht offenbar eine Einschlafbegleitung. Doch was, wenn sich die Eltern hingegen wünschen, auch endlich ihren Feierabend genießen zu können? Carina Thiemann: „Die unterschiedlichen Bedürfnisse miteinander abzuwägen ist das Komplexe am Familienleben.“ Eine Lösung wäre zum Beispiel, dass Fatimas Mutter oder Vater ein Hörbuch über Kopfhörer hört, solange Fatima einschläft.

„Das sind alles große Anforderungen an uns Erwachsene“, weiß Carina Thiemann. „Deswegen dürfen wir auch immer wieder schauen: Was brauchen wir selbst, um uns zu stärken?“ Es sei nicht immer möglich und nötig, die Bedürfnisse aller Familienmitglieder zu erkennen. Aber es mache schon einen großen Unterschied, ob unsere Kinder in frustrierenden Momenten Floskeln wie „Reiß dich mal zusammen“ hören oder ob sie sich gesehen fühlen.

„Der Schlüssel für eine liebevolle Beziehung zu unseren Kindern ist, sich emotional auf sie und ihre Sichtweise der Welt einzulassen“, resümiert Carina Thiemann. Und die Sichtweise des Kindes ist eben meist eine ganz andere!