Selbst ein Medizinstudium ist ohne Abitur möglich. Foto: dpa

Meisterbriefe, Aufstiegsfortbildungen und Berufserfahrung ermöglichen ein Studium auch ohne Hochschulreife. Weil die Bewerber oft über 30 sind und Familie, Beruf und Studium unter einen Hut bringen müssen, stehen Fernunis hoch im Kurs .

Stuttgart - Immer mehr junge Berufstätige entscheiden sich auf dem sogenannten dritten Bildungsweg für ein Studium an einer Hochschule oder Fachhochschule, ohne dass sie die allgemeine oder fachgebundene Hochschulreife besitzen. Das ist bundesweit flächendeckend erst seit 2009 möglich. Heute stehen rund 8000 von insgesamt 19 000 Studiengängen auch Bewerbern ohne Abitur oder Fachabitur offen. Sogar ein Medizinstudium ist dadurch möglich; von den aktuell 107 000 Medizinstudierenden in Deutschland sind rund 700 ohne Abitur über den beruflichen Weg an einen Studienplatz gelangt.

Die Zahl der Studenten ohne (Fach-)Hochschulreife in Baden-Württemberg ist von 2081 im Jahr 2011 auf 3409 im Jahr 2016 deutlich angestiegen. Im bundesweiten Vergleich hinkt der Südwesten allerdings hinterher. Der Anteil von Studierenden ohne Abitur an allen Hochschulen im Land lag mit 0,9 Prozent zuletzt deutlich hinter den Quoten von Stadtstaaten wie Hamburg (5,4 Prozent) und Berlin (drei Prozent) oder Ländern wie Nordrhein-Westfalen (2,7 Prozent).

Zwei Prozent aller Studenten haben kein Abitur

Bundesweit erreichte die Zahl der Studenten ohne Abitur 2016 mit rund 56 900 ein neues Rekordhoch. Das sind genau zwei Prozent aller Hochschüler und Fachhochschüler. Der Anteil der Studienanfänger ohne (Fach-)Hochschulreife betrug immerhin 2,6 Prozent, wie aktuelle Berechnungen des CHE (Centrum für Hochschulentwicklung) in Gütersloh ergeben. „Die Kombination von Berufs- und Hochschulbildung wird immer mehr zum Normalfall. Man muss sich nicht mehr für nur einen Weg entscheiden“, bewertet CHE-Geschäftsführer Frank Ziegele den erneuten Rekordwert. „Gelernte Krankenpfleger oder Handwerksmeister sind heute keine Exoten mehr auf dem Campus, sondern gehören zur selbstverständlichen Vielfalt der Studierenden an deutschen Hochschulen.“

Aber wie schafft es ein Bewerber ohne Abitur oder Fachhochschulreife an die Universität oder Fachhochschule? Zugangsvoraussetzungen sind in der Regel eine abgeschlossene Berufsausbildung sowie mehrere Jahre Berufserfahrung oder eine erfolgreich absolvierte berufliche Aufstiegsfortbildung. Das kann ein Meisterbrief im Handwerk, ein Fachwirt oder ein Fachkaufmann sein. Die Note der Meister- oder Fachwirtprüfung ersetzt die Abiturnote bei der Bewerbung um einen Studienplatz. Hochschulen bestimmen in der Regel selbst, wie vielen Bewerbern ohne Abitur sie den Zuschlag geben. „Sie können sich mehr oder weniger um diese Klientel bemühen“, sagt Sigrun Nickel, Leiterin Hochschulforschung bei CHE. In einigen Bundesländern sind auch fachfremde Studiengänge möglich, allerdings muss der Bewerber vorher eine spezifische Eignungsprüfung bestehen.

Fast jeder zweite Student ohne Abi ist älter als 30 Jahre

Mehr als die Hälfte der Studienanfänger ohne Abitur entscheiden sich für ein Fach aus den Rechts-, Wirtschaft- und Sozialwissenschaften (55 Prozent). An zweiter und dritter Stelle folgen Ingenieurwissenschaften (20 Prozent) sowie Gesundheitswissenschaften (zwölf Prozent). Von den Anfängern des Jahres 2016 entschieden sich gut 60 Prozent für ein Studium an einer Fachhochschule, 35 Prozent zog es an eine Universität, die übrigen haben sich an einer Kunsthochschule eingeschrieben.

Fast jeder zweite Student ohne Abi ist laut der Erhebung älter als 30 Jahre. Dieses fortgeschrittene Lebensalter bringe es mit sich, erläutert Nickel, „dass die Studenten oft Familie, Beruf und Studium unter einen Hut bringen müssen“. Sie entscheiden sich daher bevorzugt für ein Studium an einer Fernuniversität, die unabhängig vom Standort der Hochschule ein Studium am Lebensmittelpunkt ermöglicht. Die bundesweit bekannteste Fernuni Hagen ist mit einem Anteil von gut zwölf Prozent an allen Studenten ohne Hochschulreife auch der absolute Favorit für Bewerber.

Die meisten Bewerber gehen an staatliche Hochschulen

Obwohl der Anteil von Studenten ohne Abitur an privaten Hochschulen mit rund 7,5 Prozent deutlich über dem an staatlichen Hochschulen (1,5 Prozent) liegt, so studiert doch absolut gesehen die überwiegende Mehrheit an staatlichen Einrichtungen: 2016 waren das knapp 39 400 gegenüber 16 200 an Privathochschulen und 1300 an kirchlichen Hochschulen.

Bei der Zahl der Abbrecher verweist Nickel auf eine Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) und der HU Berlin vom Dezember. Demnach haben Studenten ohne Abitur „keinen schlechteren Notendurchschnitt als ihre Kommilitonen . . . allerdings zeigt sich bei ihnen ein höheres Abbruchrisiko“. Als Gründe vermutet Nickel das höhere Alter und die stärkere Belastung durch Familie und Beruf.